Blogs im Blick: Berlinale Bilanz mit viel Lob für „Bal“ und Kritik an Kosslick 9/10


Seit Beginn der Internationalen Filmfestspiele begleiten wir von Berliner-Filmfestivals.de und Planet-Interview.de die 60. Berlinale in diesem gemeinsamen Blog. Nachdem gestern Abend die Preisträger bekannt gegeben wurden, nutzen wir die Möglichkeit, um einige Kollegen in deren publizistischen Erzeugnissen zu Wort kommen zu lassen.

Das Berlinale-Blog von Moviereporter.net lässt aus diesem Anlass den Jurypräsidenten Werner Herzog zu Wort kommen, der den Goldenen Bären für den Besten Film mit den Worten an den türkischen Filmemachers Semih Kaplanoglu für seinen Streifen „Bal“ übergab:
Die Jury bestand aus hochrangigen Mitgliedern. Es war sehr leicht, wir konnten schnell eine Entscheidung finden. Wir waren uns gleich einig und ich danke Dieter Kosslick für die wunderbare Auswahl der Filme. Wir haben uns über jeden Film gefreut.

Mit dieser Einschätzung wird Herzog bei Ekkehard Knörer nicht punkten. In seinem Perlentaucher-Beitrag „Das ganze Vokabular des Bewegungsfilmens“ sieht er einen Wettbewerb, der sich „sich schnurstracks in den Abgrund bewegt.“ Er kritisiert: „Die letzten Jahre waren schlimm genug, in diesem ist die Katastrophe monumental. Unter den zwanzig zur Bärenvergabe präsentierten Filmen gab es, bei großzügiger Betrachtung, vielleicht eine Handvoll, die im Wettbewerb eines A-Festivals etwas verloren haben.

Seit Jahren ungenießbarer Wettbewerb

Knörer führt aus, „was den Wettbewerb seit Jahren ungenießbar macht: prätentiöse Todlangeweile von wenig begabten Epigonen (Rafi Pitts‘ „The Hunter“, Alexei Popogrebsky endlose Arktis-Erstreckung „How I Ended This Summer“), inkompetenter Gutgemeintheitsschmarrn aus deutschen Landen („Shahada“) und dann noch amerikanisches Indie-Kino aus dem unteren Regal („Greenberg“).

An anderer Stelle im Netz, im Cargo-Beitrag „Over and Out“ listet er seine Favoriten auf. Daraus geht er hervor, dass Heisenbergs „Der Räuber“ (vor „Caterpillar“ und dem tatsächlichen Sieger „Bal“) für ihn den Ober-Bären verdient hätte.
Dem großen Abräumer des Preisverleihung „How I Ended This Summer” widmet der meinungsfreudige Knörer nur ein kleines, aber vernichtendes Postskriptum am Rande eines liebevollen „Shekarchi“- Verrisses:
Gestern saß ich zwei verzweifelt endlose Stunden lang in Alexei Popogrebskys Wettbewerbsfilm „How I Ended This Summer“. Er jagt seine zwei Figuren abseits aller gesellschaftlichen Wirklichkeit und psychologischen Plausibilisierungsversuche auf einer arktischen Insel komplett sinnlos durch die Gegend. Es ist wie eine „Lost“-Folge ohne Rätsel, ohne Spannung und in zehnfacher Verlangsamung abgespielt. Aber auch nicht so, dass die komplette Leere als konzeptuell zu begreifen wäre. (Eher, fürchtet man, als existenziell.) Ich litt wie ein Hund und konnte mich immerhin damit trösten, dass ganz gewiss alle, die das mit mir durchlitten, das im Bewusstsein taten, gerade eines der wirklich unerfreulichen Berlinale-Erlebnisse hinter sich zu bringen.“

Glücklicherweise darf Kritik polarisieren. So schließt sich Howard Feinstein vom Filmmakermagazine dieser Einschätzung ganz und gar nicht an – im Gegenteil: „but there is no question here for any of the trustworthy film journalists that How I Ended My Summer is so far superior to anything in the festival that it deserves the Golden Bear.

Die Auszeichnung für „Bal“ sah dagegen Harald Martenstein in seinem neunten Berlinale-Beitrag vorher:
Den Goldenen Bären wird, vermutlich, entweder „Bal“ aus der Türkei gewinnen, oder „Der Räuber“ aus Deutschland/Österreich, oder „Zeit des Zorns“ aus dem Iran, oder Roman Polanski. Ich bin für Polanski.
Polanski kehrt auch Carolin Ströbele in der Zeit hervor. In ihrem Beitrag „Das Festival der Finsternis“ spricht sie über einen Wettbewerb „voller verlorener Männer, gefangen an unheimlichen Orten oder in ihrer eigenen Psychose.“ Sie hält „die Verleihung des Silbernen Bären für die Beste Regie an Roman Polanski“ für „am Aufsehen erregendsten“. Und interpretiert das Votum der Jury für dessen Thriller Ghostwriter „gleichzeitig auch als Votum für Polanskis Person“.

Poetischer Bär

Einen „Preis für den poetischsten Film des Wettbewerbs“, also einen Poesie-Bären, hätte Tiziano Zugaro von Festivalblog.com an „Bal“ verliehen. Er schwärmt: „Der Film entführt uns in eine andere Welt, irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit, in der das Rauschen der Blätter, das Knacken eines Astes oder die Spiegelung des Mondes in einem Wassereimer Ereignisse sind, die uns genauso in den Bann ziehen, wie die heißeste Actionszene in einem Thriller.
Anders Lida Bach in ihrer Hollyglade-Besprechung „Träge Schönheit überzuckerter Bilder“ des Wettbewerbssiegers:
Die betörende Optik ist die größte Stärke von „Bal“ – die einzige, dieses schönen und oberflächlichen Berlinale-Beitrags. Das Drama, welches der Film zu erzählen vorgibt, ereignet sich entrückt von der Hauptfigur.
„Bal“ erstickt seine Charaktere mit der zähflüssigen Süßlichkeit seiner Bilder. Die visuelle Schönheit des Dramas übertrifft dessen Bedeutungslosigkeit.

Berlinale Juror Werner Herzog

Das traditionell in der Festivalszene gut informierte BAF-Blog stellt in seinem Berlinale-Fazit „Cinema for Peace und die Berlinale Bären“ einen Zusammenhang zwischen den filmischen Vorlieben von Ober-Juror Werner Herzog und den Auszeichnungen des Berliner Filmfestivals her. Zu „Bal“:
Der sehr archaische gemachte Film, mit wunderbaren Aufnahmen, in dem allerdings kaum Dialoge vorhanden sind, traf genau den Geschmacksnerv des Juryvorsitzenden Werner Herzog, dessen Filme oft eine ähnliche Machart aufweisen. Ein großer, stiller Bilderrausch in ruhigem, meditativem Erzählfluss.

Ebenso bei mit zwei (bzw. drei) Silbernen Bären ausgezeichneten Mehrfachsieger des Abends, „How I Ended This Summer“ aus Russland:
Grigori Dobrygin und Sergei Puskepalis teilten sich den Bären für den Besten Schauspieler, zugleich wurde auch der Kameramann ausgezeichnet. Das darf niemanden überraschen: Jurypräsident Werner Herzog hat vor drei Jahren „Encounters of the End of the World“ gedreht, einen Dokumentarfilm über Menschen auf der anderen Seite der Welt, der Antarktis. Das Arktis-Drama musste ihn also ansprechen, und hier wie auch in „Bal“ geht es letztlich um ein Thema, das auch Herzog immer wieder beschäftigt: die Selbstbehauptung des Menschen in unwirtlicher Umgebung.

Im Taz-Artikel „Vergoldeter Honig“ (von Cristina Nord) lobt die Filmkritikerin zwar die Vorzüge von „Bal“, in es dem Kaplanoglu schaffe „das Zusammenspiel von Landschaft, Tieren, Objekten und Menschen in atmosphärischen Bildern einzufangen“, aber eben in dessen Sieg erkennt Nord ein Problem der Berlinale:
Mit diesen Qualitäten stach Kaplanoglus Film aus einem Wettbewerbsprogramm heraus, in dem das Belanglose das Anregende bei weitem überwog. Das Traurige daran ist, dass dies seit Jahren so geht. Dieter Kosslick und sein Auswahlteam setzen zu oft auf den Thesenfilm statt auf den in Bildern denkenden Film, zu oft auf das Offenkundige statt auf das Subtile, zu oft auf gemütliches Arthouse statt auf herausforderndes Autorenkino.“
Dabei wundert sie sich über den Publikumszuspruch der Berlinale:
Ein paar rote Teppiche in den Kiezen, mehr als 300.000 verkaufte Eintrittskarten, eine Open-Air-Vorführung von „Metropolis“ bei minus zehn Grad am Brandenburger Tor, dazu Kosslicks Kalauer – und schon scheinen die Stadt, der Bund und die Sponsoren zufrieden.
Was beispielsweise Hanns-Georg Rodek in der Welt mit „Der Bär ist los“ positiv hervorhebt: Weil das Festival ein Event sei, „strömen die Zuschauer nicht nur in argentinische oder taiwanesische Filme, die sie im Kino um ihre Ecke keines Blickes würdigen würden – sie stehen für die Karten auch stundenlang an.

Kosslick und die Qualitätsfrage

Im Tagesspiegel sah Jan Schulz-Ojala in „Der Wald vor lauter Bäumen“ Nords Kritikpunkte schon von Anbeginn der Festspiele an:
Die 60. Jubiläumsberlinale hatte mit Wang Quan’ans zarter Familiengeschichte „Tuan Yuan“ schon bescheiden angefangen, und die Höhepunkte blieben rar. Markiert wurden sie zudem nicht durch große Namen, die ohnehin die Vitalität des Weltkinos dokumentieren, sondern durch wenig bekannte Regisseure. Vor allem der Abstand zu Cannes, dem Hauptrivalen, dem man in den ersten Jahren der Ära Kosslick nahezu ebenbürtig war, hat sich empfindlich vergrößert.
Die Gründe dafür könnten vielfältig sein, führt er weiter aus:
„Kein Wunder, dass immer deutlicher Kritik nicht nur am schwungvollen, aber cineastisch weniger versierten Berlinale-Chef Dieter Kosslick laut wird, sondern auch am Sachverstand der Auswahlkomitees. Übersehen sie, angesichts Tausender von Einreichungen und zahlreicher Sichtungsreisen, die wirklich guten Sachen? Oder werden, nicht weniger besorgniserregend, der Berlinale Filme einer gewissen cineastischen Größenordnung gar nicht mehr angeboten?“
Ein Standpunkt den Kosslick-Kritiker Knörer (s.o.) sicher teilen wird.

Plakat Jud Suess

Schließen möchten wir diese Bilanz natürlich dennoch nicht ohne Herrn Kosslick selbst zu Wort kommen zu lassen. In Martin Blaneys Artikel “Semih Kaplanoglu’s Honey takes Berlinale Golden Bear” zieht er seine persönliche Bilanz: „Generally speaking, it was the kind of birthday celebration we had wanted from the outset, although there was a bit of trouble with some films which didn’t go down as well as people had expected.
Weiter: „As far as Shahada is concerned, I’m quite convinced that this young director is a real talent and will have a great career ahead of him. And I had never expected that Jew Suess would be criticised so heavily, with broadsides being fired at the film.”

Mit eben jener Kritik an Oskar Roehlers “Jud Süß – Film ohne Gewissen” setzen sich Jörg Buttgereit und Stefan Höltgen im epd Berlinale-Blog auseinander. Ihr Audio-Beitrag: „Jud Süß – Podcast ohne Gewissen“ setzt sich unter anderem mit der Frage „Wohin einen die künstlerische Freiheit führt?“ auseinander.

Dieser Beitrag entstand als Teil einer Kooperation vom Portal für Interviews Planet Interview und Berliner-Filmfestivals.de.