Das Unsichtbare, das Gesammelte und ein Fatsuit (4/10)


Manchmal betätigt sich ein Filmfestival als großer Schnittmeister. Es koppelt Programmpunkte scheinbar wahllos aneinander, die aber schließlich einen eigenen Sinn ergeben, einen wunderbaren Fluss von Eindrücken. Sie stehen dann für sich, treten aber gleichzeitig miteinander in Beziehung und lassen, wie es bei gelungenen Filmen oft der Fall ist, den Schnitt unsichtbar werden. So spannen Bilder von Martin Scorseses gottverlassenem „Shutter Island“ einen verblüffenden Bogen zu „L’Inferno“ von Giuseppe De Liguoro aus dem Jahr 1911: bei Scorsese passiert man irre Gefängnisinsassen, Rattenhorden verwandeln die Küste in ein wimmelndes Chaos. In der Stummfilm-Hommage an Dantes „Inferno“ gibt es wuselige Tableaux Vivants voller Teufel und Dämonen. Einmal lässt De Liguoro im herrlich ruckelnden Stop-Motion-Verfahren ein Krokodil auf einen zur Hölle verdammten Menschen krabbeln. Die beiden verschmelzen zu einem gemusterten Mischwesen. Es sieht verdächtig nach James Camerons „Avatar“ aus. Ob da ein neuer Urheberrechtsstreit ansteht?

Alles Quatsch! würde Christoph Schlingensief sagen und das sagt er auch, als er sich vor seiner kommentierten Präsentation von „L’Inferno“ auf der Bühne des Theaters HAU 1 warm redet. Allerdings geht es ihm da nicht um James Cameron, vielmehr ergreift der frühere Stammregisseur der Berliner Volksbühne Partei für die zur Zeit durch die Pressemangel genommene Helene Hegemann, die als Tochter des früheren Volksbühnen-Dramaturgen Carl Hegemann ja quasi zur Familie gehört. Er mache auch nichts anderes, als das, was man Hegemann gerade vorwerfe, ruft Schlingensief: „Ich oute mich als jemand, der alles sammelt, was er kriegen kann.“ Kritik übt er nur inhaltlich, an einem Satz der Nachwuchsautorin: „Ich bin auch nur Gast in meinem Körper! Wer sowas sagt, hat ’nen Knall!“ Aber mit 17, fügt er verteidigend hinzu, dürfe man das sagen. „Da muss man sich eben noch richtig auskotzen.“

Der arbeitswütige Regisseur, Autor und Aktionskünstler, der seit seiner schweren Krebserkrankung auch als Botschafter eines neuen, komplexbefreiten Umgangs mit der Sterblichkeit unterwegs ist, stößt in einem Rederausch gefühlt mehr Worte pro Sekunde aus, als eine Filmkamera aufnehmen könnte. „Ich komme nirgendwo mehr hin, ohne von meinem Lieblingsprojekt zu erzählen“ rührt er die Spendentrommel für sein „Operations-und Opern-Projekt“ in Burkina Faso. Über das Thema Hegemann assoziiert er sich dann noch zum Berlinale-Wettbewerbsbeitrag seines alten Weggefährten Oskar Roehler: „Wenn sein „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ so lustig ist, wie „Opfergang“ oder „Mutters Maske“ von Veit Harlan hat er den Goldenen Bären verdient!

Der eigentliche Programmpunkt dieses Freude machenden, ungestümen Abends in der Berlinale-Reihe Forum Expanded Screen wird dann zum halb improvisierten Experiment. DJ Schlingensief projektiert „L’Inferno“ per Videobeam an die Leinwand, synchronisiert ihn mit dem wunderbaren Song „An meinem Fenster wachsen Blumen“ der Essener Band Festland, zusammen gesammeltem Audio-Material, zum Beispiel aus „Apokalypse Now“ und mit Fachvorträgen über Geisteskrankheiten. Auch Szenen anderer Filme blendet er bisweilen ein, so dass gegen Ende kein geringerer als Max von Sydow in seiner Priester-Rolle aus „Der Exorzist“ über „L’Inferno“ auftaucht. Einen Tag zuvor war von Sydow ja auch schon in „Shutter Island“ als Nazi-Version eines Psychotherapeuten zu sehen. Als würde Schlingensief diese Parallele bewusst ziehen wollen, hielt er auch noch eine flammende Rede über die fatalen Nebenwirkungen von Psychopharmaka, über die Suche nach Atem, über das Bedürfnis, vor dem Tod sich noch selbst mit den drei Personen zu vertragen, die es am wenigsten verdienen und verabschiedet sich mit den Worten „Das Leben ist einfach zu kurz, um es mit schlechter Laune zu verschwenden“. Im rappelvollem Auditorium tost der Applaus.

Zugabe. Der deutsche Botschafter in Burkina Faso sei, so erzählt Schlingensief, bei seiner ersten Begegnung ein nörgelnder, nerviger Bedenkenträger gewesen, der zu allen vorgelegten Plänen nur gesagt habe: Das-wird-nie-was-habe-ich-alles-schon-versucht-vergessen sie’s! Bis Schlingensief ihn anbrüllte, er möge doch mal seine Schnauze halten. Einen Tag später sei der Botschafter wie verwandelt gewesen, die freundliche Ruhe in Person…

Von der anscheinend sehr deutschen Verhinderer-Mentalität kann auch Doris Dörrie ein Lied singen („Der deutsche Reflex ist bestimmt nicht, „Yes, I can“ zu rufen.Wir sind Zweckpessimisten.“). Statt zu brüllen, setzt sie ihren neuen Film „Die Friseuse“ dagegen, der am Ende des Tages als Berlinale Special seine Weltpremiere feiert. Während der Recherche für ihre Geschichte von der ziemlich beleibten Kathi aus Marzahn, die mit einem eigenen Friseursalon zurück ins Leben findet, ging Dörrie mit einem Fatsuit auf Selbsterfahrungstripp durch Berlin. „Ich habe mir vorher nicht klar gemacht, dass man immer sichtbar ist, wenn man so dick ist,“ erzählt sie. „ Man kann nicht zurück in die Unsichtbarkeit, sondern man bleibt immer sichtbar und man muss dem die ganze Zeit etwas entgegenhalten. So wie ich normaler Weise aussehe, bin ich halt absoluter Durchschnitt und unsichtbar, das ist nicht anstrengend. Aber das Sichtbarsein ist irre anstrengend.“

Demnächst zum Filmstart von „Die Friseuse“: das komplette Interview mit Doris Dörrie, auf Planet Interview.

Dieser Beitrag entstand als Teil einer Kooperation vom Portal für Interviews Planet Interview und Berliner-Filmfestivals.de.

Autor & Bild: Ralf Krämer