Zwischen den Welten: Festivalbericht der Türkischen Filmwoche 2010


Filmszene: "Die Fremde"

Die Türkische Filmwoche will keine Leistungsschau sein. Sie zeigt alljährlich einen Querschnitt der türkischen Filmlandschaft und die Facetten seiner Erzählformen. In diesem Jahr stach in der Auswahl der Filmwoche vor allem eines hervor: Türkische Autorenfilmer widmen sich in aller Vielfalt den sozialen Themen ihres Landes, nicht in großen politischen Gesten sondern mit persönlichen, oft eindringlich erzählten Geschichten. Fast schon nebensächlich zeigt diese Entwicklung auch, dass die Filmindustrie der Türkei längst internationales Niveau besitzt. Arthouse-Produktionen sind weltweit auf Festivals vertreten.

Der letzte Höhepunkt war im Februar der „Goldene Bär“ der Berlinale für Semih Kaplanoglus poetische Erzählung „Bal“ (Honig), der dritte und letzte Teil seiner „Yusuf„-Trilogie über das Erwachsenwerden in der Türkei. Kaplanoglus Film steht für eine Erzählform, die geradezu programmatisch ist für das heutige türkische Autorenkino.

Kaplanoglus „Yusuf„-Filme handeln in umgekehrter Chronologie von der künstlerischen Reifung eines Dichters im traditionell und ländlich geprägten Anatolien. Wurde in Teil eins zunächst das Erwachsenenleben Yusufs behandelt und dann in Teil zwei seine Jugend, so geht es in „Bal“ nun um das etwa sechsjährige Kind. Allein die erste Kameraeinstellung von „Bal“ dauert fünf Minuten. Die Kamera steht unbeweglich im Wald, man lauscht den Geräuschen, irgendwann bewegt sich etwas im Dickicht. Ein Mann der einen Esel führt, erscheint im Bild, er wirft mit Schwung ein Seil über einen außerhalb des Bildes liegenden Ast, zurrt es fest. Schnitt. Der Mann klettert, der Ast bricht und er hängt hilflos in der Luft. Ein weiterer Schnitt, die Szene ist zu Ende. Dieser Erzählstil ist extrem ruhig. Die Aufnahmen der Landschaft, die Gesichter der Menschen und die beginnende Veränderung der Gesellschaft, die hier vor dem Wechsel in die Moderne steht – alles in diesem Film wirkt entschleunigt.

Raum und Zeit

Ebenso behutsam inszeniert Pelin Esmer ihren Film „10 vor 11„. Sie erzählt die Geschichte des 83-jährigen Mithat, ein in Istanbul lebender Rentner. Der ist ein leidenschaftlicher Sammler und bewahrt so ziemlich alles auf, was ihm im Alltag begegnet. Zärtlich nennt er dieses opulente Sammelsurium „seine Kollektion“, die aus Uhren, alten Zeitungen, Flaschen und einer Unmenge alter Tonbandaufzeichnungen besteht. Esmers Figur ist kein zwanghafter Sammler mit Desorganisationsproblemen, Mithats Alltag ist ausgerichtet auf das Archivieren und Konservieren der Vergangenheit. Doch der Rentner muss seine Wohnung verlassen. Das Haus, in dem er jahrzehntelang gewohnt hat und in dem sich die Dinge wie in einem musealen Depot stapeln, wird abgerissen. Es soll einem modernen Wohnblock weichen.
Esmers Erzählstil als ruhig zu bezeichnen, wird ihrer intensiven Bildsprache nicht gerecht. Ähnlich wie in Kaplanoglus Film entsteht hier eine Spannung aus der Statik heraus, gerade so, als würden sich ihre Figuren in einer Zwischenwelt befinden. Eine Zeit zwischen dem Jetzt und der Vergangenheit, in der die Geschichte zwar fortläuft, sich aber wie in einem Trichter anfängt zu stauen.

Filmszene: "Men On The Bridge"Brücken schlagen

Ursprünglich als Dokumentarfilm konzipiert, entwickelte sich Asli Özges Doku-Fiction „Men On The Bridge“ zu einem Festivalliebling. Er erhielt Auszeichnungen auf den Filmfestivals in Istanbul und Adana und wurde in Toronto, Locarno und bei achtung berlin (siehe Festivalbericht) gezeigt. Özge zeichnet in seinem Film anhand dreier Protagonisten ein differenziertes Bild der türkischen Gesellschaft aus deren Mitte, der brodelnden Metropole Istanbul, heraus. Die Stadt am Bosporus, die sich über Europa und Asien erstreckt, ist der Schauplatz einer Studie über Menschen, deren Leben sich um das Verbindungsglied, die Bosporus-Brücke, dreht. Drei Schicksale, die die gesellschaftlichen Problemen in der Türkei und der sich schnell verändernden Stadt offenbaren. Dabei steht dem Regisseur allerdings die Vermischung von Quasi-Realität und Fiktion der Handlung ein wenig im Weg, denn der fiktionale Anteil treibt die Handlung nicht spürbar voran und lässt den dokumentarischen Blickwinkel zu sehr verschwimmen.

Selda Ciceks Drama „Bittersüsse Feigen“ ist ein weiterer Film in der diesjährigen Auswahl der Türkischen Filmwoche, der seine Geschichte in geradezu leiser Art und Weise erzählt. Auch Cicek braucht nur wenige Kameraeinstellungen um die Schönheit der historischen Stadt Mardin, dem Ort ihrer Erzählung, einzufangen. Sie erzählt von Celil, der gerade aus dem Militärdienst entlassen wurde. Als er und seine Geliebte bei einem Ausflug durch eine Landmine ums Leben kommen, zerbricht auch seine Familie. Jahre nach dem Unglück treten die Probleme jedes einzelnen Familienmitglieds offen zu Tage. Cicek zeigt das Entsetzen einer von der Tradition geprägten Gesellschaft, die ihren Zerfallsprozessen hilflos gegenübersteht. Die Regisseurin formuliert diesen Zerfall ohne formal politisch zu werden und konzentriert sich wie auch Pelin Esmer auf die Glaubwürdigkeit des Erzählten.

Ehrenmord

Ähnlich verfährt auch Feo Aladag in ihrem Debüt „Die Fremde„. Ihre Geschichte der Deutschtürkin Umay, die aus ihrer Ehe ausbricht, sich gegen tradierte Werte auflehnt und für sich das Recht der Selbstbestimmtheit formuliert, ist nicht denkbar ohne den Mord an der Berlinerin Hatun Sürücü. Ihr Tod löste 2005 bundesweit eine Debatte über Zwangsehen und Wertvorstellungen von in Deutschland lebenden Muslimen auf. Und rückte nicht zuletzt den Begriff „Ehrenmord“ nachhaltig ins öffentliche Bewußtsein. Die Regisseurin verweigert sich mit ihrem Drama einer maßgeschneiderten Deutungshoheit ebenso wie einem politischen Statement. Sie begrenzt ihre Geschichte auf die psychologischen Vorgänge innerhalb der Familie und zeigt die Barrieren, an der jede einzelne ihrer Figuren schließlich zerbricht.

Im Fall von Umay ist es das heimatlose hin und hergerissen sein zwischen Selbstbestimmung und der Vertrautheit der Familie. Ihr Vater dagegen kämpft mit der Selbstherrlichkeit patriarchalischer Strukturen, traditionellen Werten und dem Konformitätsdruck eines Kulturkreises, der mit den ideelen Werten einer westlichen Gesellschaft kollidiert. Eine Ausnahme stellt Aladags Film in dieser Auswahl dennoch dar. „Die Fremde“ ist ein deutscher Film, seine Regisseurin Österreicherin, ihre Hauptdarstellerin, die Deutsch-Türkin Sibel Kekelli, stammt aus Heilbronn, sein Thema türkisch.

Martin Daßinnies, Denis Demmerle

Im Anschluss an die Filmvorführung von Feo Aladags „Die Fremde“ wurde am Freitag, den 11.6., im Babylon Kreuzberg diskutiert. Geladen waren neben der Regisseurin, auch Staatssekretär Ulrich Freise und die Sozialarbeiterin Jouanna Hassun, die von ihren eigenen Erfahrungen im Moabiter Mädchenladen Dünya berichtete.