Berlinale aktuell: Interview mit Generations-Sektionsleiterin Maryanne Redpath


Filmszene: "On The Ice"

Filmszene: "On The Ice"

Liegt der Erfolg Ihrer Sektion vielleicht auch darin, dass durch die unverstellte Perspektive der Kinder oder Jugendlichen ein authentischerer Blick auf gesellschaftliche Umstände frei wird?
Redpath: Wir haben großen Respekt für unsere Zuschauer und trauen ihnen viel zu. Das machen Filmemacher der klassischen Kinderfilme häufig nicht. Ich las neulich einen Kommentar vom dänischen Commissionar für Kinder und Jugendfilm. Aus Dänemark kommen häufig sehr harte Stoffe, die aber in einer humanistischen Tradition stehen. Er sagte: „Es ist so ein Quatsch zu versuchen Kinder- und Jugendfilme zu machen.“ Ich fand das interessant. Was man normalerweise unter diesem Genre versteht, ist wie man Kinder in dieser Gesellschaft betrachtet. Die sollen stillsitzen, gut strukturiert und nicht zu laut sein und nichts machen, was man nicht erwartet. Die sollen einfach nur nett verpackt sein. Das ist genau der Ansatz, wie Kinderfilme leider häufig gemacht werden. Das entspricht aber nicht der Realität. Die können viel mehr aufnehmen, als man erwartet. Wir können ihnen viel mehr zutrauen. Das ist vielleicht auch unsere authentische Stimme.

Wie wichtig sind die Filmgespräche mit den Protagonisten oder Filmemachern nach den Filmvorstellungen?
Redpath: Wir haben nicht die ganz großen Megastars. Wir bringen Regisseure und Protagonisten hier her, von denen manche schon etwas bekannter sind, andere feiern hier ihr Debüt. Häufig sind es Laienschauspieler, die in den Filmen auftreten und auf einer solch großen Bühne landen. Wenn die auf die Bühne kommen, geht das manchmal schon sehr unter die Haut. Das hat auch eine besondere Wirkung auf die Kinder. Manchmal kommen Kinder aus ganz anderen Verhältnissen und Kulturen und müssen zum Beispiel erst auf einem Pferd oder Pony durch den Urwald zur Botschaft reiten, wo sie ihren Reisepass oder ihr Visum beantragen. Die waren teilweise noch nie zuvor in einem Kino und stehen dann vor so vielen Zuschauern. Sie landen nicht nur in der winterkalten Metropole Berlin, sondern auch vor großem Publikum. Das ist großartig. Besonders rührend sind kleinere Kinder. Sie unterscheiden häufig nicht zwischen Realität und Fiktion und halten das, was auf der Leinwand geschieht, für das wahre Leben. Da fragen sie im Anschluss: „Hat es Dir wehgetan, als Du vom Fahrrad gefallen bist?“ oder „Habt ihr euch wirklich geküsst?“ Das zeigt, welche Wirkung und manchmal auch welch gefährliche Wirkung Filme für kleine Kinder haben können, wenn sie zum Beispiel überfordert würden, etwa mit sehr gewaltvoller Animation. Es ist für die Kleinen sehr schwer zwischen Realität und Fiktion zu differenzieren. Kinder beziehen die Dinge oft auf sich und ihr eigenes Leben. Ich erinnere an Bambi und die Tötung von Bambis Mutter. Das hat schon viele Kinder sehr nachhaltig beeindruckt.

Sie sind umgezogen in das Haus der Kulturen der Welt.
Redpath: Also erstmal entgegen aller Befürchtungen: Es ist nicht am Ende der Welt. Wir haben extra einen Shuttle Bus, der alle 20 Minuten vom Potsdamer Platz zum Haus der Kulturen der Welt und zurück fährt. Das Babylon wurde wegen der Popularität von 14plus leider einfach zu klein. Die haben lediglich 400 Plätze in ihrem größten Saal. Im HKW haben wir jetzt über 1000. Da feiern wir gerne unsere Premieren. Es war sehr schwer vom Zoopalast wegzukommen. Das ist einfach ein sehr schönes, großes Kino, das es so nicht mehr in Berlin gibt. Große Säle verschwinden oder werden umgebaut, so wie in diesem Fall. Wir wissen auch noch nicht, wie groß oder klein das Kino nach dem Umbau sein wird und ob wir wieder dorthin zurückkehren können. Mit dem HKW haben wir Glück, sie haben zwei Kinos und eine gute Technik. Der Ort ist für das Fachpublikum ganz toll. Es kann den ganzen Tag dort verbringen, ins Restaurant oder Café gehen, networken und bis zu acht Premieren täglich erleben. Wiederholungen zeigen wir  natürlich nach wie vor am Potsdamer Platz.

Im Zeitalter von Film-Downloads, Online-Stream und Home-Kino, welche Funktion kann die Berlinale als Festival gegen das „Sterben des Kinos“ bieten?
Redpath: Da ist natürlich der Event-Charakter. Wir feiern nicht nur die Filme, sondern auch die Gäste und das Drumherum. Es ist international, ein Highlight und eines der größten Festivals der Welt. Wir sind ein großer Teil davon und nicht etwa ein Satellit, uns gibt es immerhin seit 34 Jahren. Ich bin froh, wenn unsere Filme, die wir auswählen, auch später im Kino zu sehen sind. Wir arbeiten auch mit Verleihern zusammen, geben ihnen Zugang zu den Filmen und versuchen sie aufzuwecken, bezüglich der Art von Filmen, die wir zeigen. Wir können natürlich nichts gegen Portale und das Home-Kino machen. Aber wir alle von der Berlinale glauben an den sozialen Event. Daran, dass ins Kino gehen auch außerhalb der Berlinale eine wichtige Geselligkeit anbietet. Es ist ein Gesamterlebnis. Zuhause ist das ein ganz anderes Gefühl. Es wäre traurig, wenn das immer so wäre. Es ist Kino, das muss auch groß gesehen werden.

Welche Highlights können Sie hervorheben?

Redpath: Ich gebe mal stellvertretend Filme aus den beiden Wettbewerben: Für Kplus den Eröffnungsfilm von Anna Sewitzky „Jørgen + Anne = Für Immer“. Ein Film über eine Zehnjährige, die ihre erste Liebe und Eifersucht erlebt. Der Film erzählt diese Geschichte auf Augenhöhe dieser Altersgruppe. Vor zwei Jahren erwähnte unsere Kinderjury den Kurzfilm „Oh my God“ der Regisseurin in unserem Programm lobend und die internationale Jury gab ihr den Hauptpreis. Es ging um elfjährige Mädchen und Selbstbefriedigung. Anna Sewitzky hat jetzt diesen tollen, sehr fein gezeichneten Spielfilm gemacht. Ein absolutes Highlight, nicht nur für Mädchen. Stellvertretend für 14plus steht „On The Ice“, ein Film aus Alaska. Das ist eine Art Krimi auf dem Eis, der von Jugendlichen erzählt, die in einem Dorf im ewigen Eis leben und die richtig cool sind. Sie stehen zwischen der Tradition und der neuen Welt, gehen auf die Jagd, haben aber auch mit Drogen zu tun und sind Hip-Hopper. Ein wunderschöner Film, der vom Mannwerden erzählt.

Zum Abschluss: Was wünschen Sie sich für die Zukunft des „Kinder- und Jugendfilms“?
Redpath: Mehr Mut hier in Deutschland. Von den Produktionen, den Filmemachern, den Geldgebern und Verleihern – also der Industrie. Und Respekt für und das Erkennen des jungen Publikums.

Die Fragen stellten Denis Demmerle und Susanne Teichmann

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Panoramaleiter Wieland Speck

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