Transmediale 11: Festivalbericht


Filmszene: "Dust"

Filmszene: "Dust"

Ein Schritt zurück nach vorn

Es gibt wenige Festivals in Berlin, die mit einem Programm aufwarten, welches auch nach mehrstündiger Lektüre des Katalogs noch nicht komplett durchschaubar ist. Selbst die Beschränkung auf eine einzelne Sektion, in diesem Fall das Filmprogramm SyncExistence, schützt nicht vor Sinnüberreizung. Zumal sich bewegte Bilder nicht nur im von Marcel Schwierin kuratierten Segment finden, sondern auch als Installationen, Visuals und anderen hochästhetischen Strukturen. Thematisch besetzt die Transmediale eine exotische Nische – nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern weltweit. Und diese Nische ist keine einfache. Sie strengt an, fordert, überfordert. Programmatisch für den weiteren Verlauf der sechs Tage Response:Ability im Haus der Kulturen der Welt, im Hau und in vielen weiteren Satellitenstationen eröffnet die Opening Ceremony mit dem Film „Dust“ von Herman Kolgen. Keine leichte Kost, hat sich der kanadische Experimentalfilmer doch auf eine durchaus anspruchsvolle Komposition von Bild und Ton spezialisiert. So werden künstlich verfremdete, computergenerierte Sequenzen geloopt, gestreckt, beschleunigt und gleichzeitig mit technoiden Sounds unterlegt. All dies mit einer solchen Wucht, dass nicht wenige Zuschauer nach den ersten fünf Minuten das Auditorium verlassen.

Situationen dieser Art geschehen in den nächsten Festivaltagen wiederholt, sprechen jedoch keinesfalls für eine mangelnde Qualität der Arbeiten. Vielmehr lässt sich anhand dieses ersten Screenings eine kleine Instruktion formulieren: Wer die Transmediale in ihrem ganzen Spektrum erfassen möchte, sollte in Besitz einer überdurchschnittlich hohen Toleranzgrenze bezüglich Lautstärke, Bildflimmern und anderen potenziell migräneverursachenden Faktoren sein. Das eigentliche Filmprogramm hingegen ist weitestgehend, in Bezug auf sinnliche Stimulation, verträglich. Herr Schwierin verfolgt eher einen kognitiven Ansatz, indem er mehrere kurze bis mittellange Filme dialektisch in einem Screening verarbeitet.  Diese Methode beweist sich im Laufe der Woche als äußerst effektiv, zumal Schwierins Programm beeindruckend kuratiert ist. Gleich der erste Block mit dem Titel „Dial Goes Around“ schlägt einen erhellenden Bogen: Es stehen sich zwei Filme gegenüber, welche in ihrer jeweils eigenen Absurdität Ecksteine in der Entwicklung der Telekommunikation dokumentieren.

Filmszene: "Dial Comes To Town"

Filmszene: "Dial Comes To Town"

Gab es in den 1940ern noch Lehrfilme zur Benutzung des Selbstwähltelefons, wie in dem gezeigten amerikanischen Film „Dial Comes to Town„, erklären heute – ungeachtet der Zeitverschiebung – Angestellte in nach Indien ausgelagerten Call-Centern Konsumenten aus dem englischsprachigen Raum die Benutzung ihrer technischen Geräte per Service-Hotline. Der Dokumentartfilm „John & Jane“ von Ashim Ahluwalia verhandelt genau dieses Phänomen und gibt den virtuellen Exportwegen des amerikanischen Traums eine tragisch-komische Note. Die Gegenüberstellung von Historie und Gegenwart spielt auch in den Programmen „Das erste Fernsehen“ und „The Revolution Will Not Be Televised“ eine tragende Rolle. Bezieht sich ersteres verstärkt auf die propagandistische Wirkung der Fernsehtechnik im Dritten Reich (das erste regelmäßige Fernsehprogramm der Welt startete 1935 im nationalsozialistischen Deutschland) und zeigt Raritäten aus dem Bundesarchiv, betont letzteres den popkulturellen Charakter des neuen Mediums. Im Zentrum befindet sich hier der Aufstieg eines neuen Familienmitgliedes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die intensive Auseinandersetzung mit jenem durch zeitgenössische Künstler.

Zu sehen gibt es beispielsweise den frühen Fluxus-Film „Sun in Your Head“ von Wolf Vostell, Joseph Beuys‘ „Filz TV“ und eine wärmende Dokumentation des ersten californischen Love-Ins namens „God Respects Us When We Work But He Loves Us When We Dance„.  Schwierin rundet diese Collage mit der grandiosen Arbeit „The Television Will Not Be TelevisedStuart Bakers aus dem Jahre 1988 ab, in welcher das gleichnamige Stück des Musikers und Dichters Gil Scot-Heron verarbeitet und visualisiert wird. Neben den regulären Screenings stechen aber besonders zwei Langfilme ins Auge: „Deconstructing Dad“ von Stan Warnow und Sergei Komarovs „A Kiss from Mary Pickford„.

Die Dokumentation „Deconstructing Dad“ kann als nachträgliche Puzzlearbeit verstanden werden, in der Warnow, Sohn des Jazz-Virtuosen und Pioniers der ersten elektronischen Instrumente Raymond Scott, versucht, den oftmals abwesenden Vater in seiner Person zu erfassen. Er arbeitet hierfür insbesondere mit alten Archivaufnahmen, unterlegt viele Szenen mit einem intimen Voice-Over und gestaltet mithilfe dieser Methode ein berührendes Portrait. Zuschauern wird so das mysteriöse Bild des Genies Scott näher gebracht, gleichzeitig begleiten sie Warnow auf eine Reise in innerfamiliäres Terrain. „A Kiss from Mary Pickford“ wird von Schwierin hingegen als einer der frühesten „Hacks“ in Filmaufnahmen gewertet.

Regisseur Komarov begeistert sich im Russland der 20er Jahre ebenso für den Stummfilmstar Mary Pickford, wie die restliche Welt mit Kinozugang. Er verwendet anno 1927 Material eines Besuchs dieser in Moskau und baut aufgrund jener Filmsekunden eine neue, fiktive Handlung um zwei junge Menschen. Mary Pickford erfährt erst in den letzten Jahren vor ihrem Tod von den Aufnahmen und dem hybriden Filmprojekt der sowjetischen Konstrukteure. Untermalen lässt Schwierin genanntes Stummfilmwerk von dem Filmkomponisten Peter Gotthardt, der einst die Musik für den fulminanten DDR-Erfolg „Die Legende von Paul und Paula“ schrieb. So endet die diesjährige Transmediale fast beschaulich, in dem alte Themen neu verhandelt und Vergangenes neu in die Gegenwart transportiert wird. Reflexion, ein offensichtliches, aber nicht immer erreichtes Ziel innerhalb des exzessiven, kulturellen Schaffens . Die Transmediale vollbringt dies. Und nächstes Jahr sogar zum 25. Mal.

Carolin Weidner