Interview mit Luc und Jean-Pierre Dardenne

Filme als sportliche Herausforderung


Die Brüder Dardenne bei den Filmfestspielen von Cannes 2009, Foto: Georges Biard (Wikipedia)

Die Brüder Dardenne bei den Filmfestspielen von Cannes 2009, Foto: Georges Biard (Wikipedia)

Die belgischen Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne sind mit ihren Filmen bei den großen Filmfestivals Dauergast und dürfen unter anderem zwei Goldene Palmen aus Cannes ihr eigen nennen. Im Interview zu „Der Junge mit dem Fahrrad„, der gerade mit dem Golden Globe für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet wurde, berichten die beiden über ihre Arbeitsweise mit Laien-Darstellern, die hohe körperliche Belastung ihrer Dreharbeiten und die Vorteile des Spielfilms gegenüber dem Dokumentarfilm.

In Ihrem Film „Der Junge mit dem Fahrrad“ steht mit dem zwölfjährigen Cyril wieder ein typischer „Dardenne-Außenseiter“ im Zentrum, also eine Figur, die sich am Rand der Gesellschaft bewegt. Wie identifiziert sich der Zuschauer mit Ihren Figuren?
Jean-Pierre Dardenne: Wir verzichten auf die Exposition. Wir steigen ein, indem der Zuschauer der Figur unmittelbar begegnet. Alles weitere erklärt sich erst mit der Zeit. Wir sind nah bei unseren Figuren. Genau so nah soll ihnen auch der Zuschauer kommen. Wir versuchen sie nicht von oben zu analysieren und schauen stattdessen emphatisch auf sie.

Thomas Doret spielt den jungen Cyril mit hohem Tempo. Er steht immer unter Spannung, rennt ständig oder fährt Fahrrad. Wie wichtig ist die Energie des impulsiven Jungen?
Luc Dardenne: Nicht die Energie ist das zentrale Motiv, sondern sein Fahrrad. Das Fahrrad setzt die Energie des Jungen um, wenn er in die Pedale tritt. Das Fahrrad wird gestohlen und wieder gefunden. Das Fahrrad gibt dem Film seinen Rhythmus. Sitzt der Junge nicht auf dem Fahrrad, rennt er ihm hinterher – genau wie er seinem Vater hinterher rennt. Als wir das Buch schrieben, war uns die zentrale Rolle des Fahrrads bewusst. Es sollte die Maschine sein, mit deren Hilfe der Junge seine Energie kanalisiert. Ursprünglich war die Rolle akrobatischer angelegt, aber das änderten wir. Er baut mit dem Fahrrad eine Beziehung zu seiner Umwelt auf.

Es fällt auf, dass die physische Auseinandersetzung im Film eine wichtige Rolle spielt. Ist Treten, Beißen, Schlagen Teil der menschlichen Existenz?
Jean-Pierre Dardenne: Für uns ist das wichtig, aber keine verallgemeinerbare Regel. Was wir aufzeichnen können, ist Bewegung. Wir hoffen, durch die äußere Bewegung der Figuren auch deren innere Bewegung abzubilden. Jeder unserer Filme ist für unsere Schauspieler eine sportliche Herausforderung. Die sind am Ende sehr erschöpft und erreichen eine beinahe olympische Form.
Luc Dardenne: Cyril spricht sehr wenig, er drückt sich stattdessen durch Beißen und Treten aus.

Eine andere Verhaltensweise ist das Halten. Cyril hält und klammert sich sowohl an der anfangs noch unbekannten Friseurin, als auch später am Vater fest…
Luc Dardenne: Er wünscht sich seinen Vater als Fixpunkt. Deshalb ist er unterwegs und sucht ihn. Er möchte ankommen und sich ausruhen.

Warum beim Vater und nicht bei seiner Mutter?
Luc Dardenne: Die Mutter gibt es nicht mehr. Aber seine Mutter hätte genauso abwesend sein können. Man hätte sich die Figur Samantha auch als männliche Figur vorstellen können. Das hätte aber bedeutet, dass die Vaterrolle Guy eine Frau wäre, womit wir ein ganz anderes Paar hätten. Das ist vorstellbar. Genau, wie ein anderes Paar, das dem Zuschauer durch den Kopf geht, nämlich dass Samantha und Guy die Eltern wären oder zu einem Paar würden.

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