Das Panorama-Publikum im Blick

Ein Kubikmeter Schal pro Frau


Filmszene: "Dollhouse", Foto: The Factory

Filmszene: "Dollhouse", Foto: The Factory

„There’s always the possibility of a fiasco. But there’s also the possibility of bliss“ formulierte Joseph Campbell in seinem Standardwerk „The Hero with a Thousand Faces“ über universelle Erfahrungsmuster, die sich in allen Mythologien unseres Planeten nachweisen lassen. Es ist dieser Joseph Campbell, der ungewollt enormen Einfluss auf das Kino der letzten 35 Jahre ausübt, denn in den späten 1970en begann mit „Star Wars“ und seinem Schöpfer George Lucas, der ein Bewunderer Campbells ist, weniger eine Neuerfindung des Films als eine Neuerfindung des Publikums. Blockbuster sind nicht unbedingt erfolgreiche Filme, sondern eher Filme, deren Erfolg vorab kalkuliert und zu gleichen Anteilen ökonomisch, soziologisch und ästhetisch zu verstehen ist. Man redet anders über sie als in einem Fachgespräch oder in einem kritischen Dialog, denn man trifft sie überall an, zu guter Letzt im Kino selbst. Sie verwandeln eine möglichst große Anzahl an Menschen in ein stehendes Heer – mit leuchtenden Augen ist man nun bereit, sich bestrahlen zu lassen und tut alles, um in diese Gemeinschaft aufgenommen zu werden.

So bezahlten bei der Premiere von „Iron Sky“ zwei Willige 40 Euro pro Karte auf dem kaum versteckten Schwarzmarkt vor dem Eingang des Cinemaxx. Es sah aus, als ob sich eine Cosplay-Convention, eine Bondage-Sause und der Club der anonymen Schachspieler die Kosten für einen Veranstaltungsort teilen würden. Die Altersspanne lag hier zwischen 18 und 35 Jahren. Einige Tage später fand sich deren Elterngeneration bei Volker Schlöndorffs „Das Meer am Morgen“ ein. Die Sakkos kosteten Geld und wurden gerade deshalb leger getragen, der letzte Bildungsroman lag höchstens eine Woche zurück und die Minen blickten ernst, aber nicht streng drein. Der Nazifilm ist ein popkultureller Mythos, den niemand wirklich mag, aber ohne den niemand so wirklich leben kann. Der Zuschauer erwartet ihn ungeduldig, freut sich mit wachsender Lust auf die Premiere und ist jedes mal aufs Neue bezaubert von einer Wiederholung mit leicht verändertem Inhalt, die er als Vertiefung, wenn nicht gar als Reifeprüfung empfindet.

Die Nachwirkungen weichen nur mit gefährlicher Langsamkeit. Ja, man wird selten ein Publikum dermaßen euphorisiert den Kinosaal verlassen sehen. Etwas aufgedreht wirkten die Interessierten bei „Dollhouse„, dem merkwürdigsten Film der diesjährigen Berlinale. Kein Streifen, den man sofort lieb gewinnt, aber er hat was. Wankelmütig, wie er nun einmal ist, zog er eben solche Beobachter an. Es war manchmal ein bisschen viel Lippenstift und wenn die Strumpfhose ein bisschen dicker ausgefallen wäre, müsste man sich auf Grund der Witterungsverhältnisse keine Gedanken um das Wohlergehen ihrer Besitzerinnen machen. Dagegen gab es bei „Rent a Cat“ gefühlt einen Kubikmeter Schal pro Frau und die Männer schienen allesamt recht asia-affin. Film und Zuschauer scheinen insgesamt in indirekter Proportionalität miteinander verknüpft zu sein. Je mehr ein Film die Leistung seiner Technik zur Schau stellt, desto größer ist die antitechnologische Angst seines Zuschauers. Das Phantastische wirbelt zwischen Fortschrittsangst und Nostalgie, und in der sozialen Metaphorik sind  Erleichterung für die Verlierer und Gier für die Gewinner austariert.

Perfide war allerdings die Finte zur „Iron Lady„, wenn man den einen kleinen Ausflug in die Sektion „Wettbewerb“ unternehmen mochte. Erwartete man doch ein seriöses Polit-Biopic und bekam anstattdessen 105 Minuten Meryl Streep. Mehr als eine Person verließ den Kinosaal. Mehr als eine Person schimpfte auf diese „überlange Werbung für Stützstrümpfe“.

Das Panorama hat eine eigene Geschichte und damit auch ein eigenes System der Selbstreflexion, der Dekadenz, wenn man so will, erreicht. Konnte man damals nicht adäquat auf ein junges und bewegliches Publikum reagieren, fällt es dem jungen und aggressiven Produktionsapparat heutzutage schwer, angemessen zu reagieren. Im Verhältnis zu seinen Anfängen trifft das Panorama-Kino, der Publikumspreis wird als letzter aller Berllinale-Auszeichnungen am 19. Februar vergeben, heute auf abgefeimte Besucher, die sich lieber selbst inszenieren und von Zeit zu Zeit noch dazu nötigen lassen, in den Kinosaal zu gehen. Um das alles zu erhalten, müsste einer von beiden erwachsen werden.

Joris J.