Athina Rachel Tsangari über ihren Film „Attenberg“


Das 20. Jahrhundert ist überbewertet.

Im Film ist spannend zu beobachten, wie sich Spyros, Marinas Vater, ganz unsentimental auf den Tod vorbereitet und dem Leben wenig nachzutrauern scheint. Im Gedächtnis bleibt seine Aussage: „Das 20. Jahrhundert ist überbewertet.“ Kommentieren Sie durch ihn das Zeitgeschehen?
Ja, hier spricht die Regisseurin durch eine ihrer Figuren. Ich wollte das in „Attenberg“ vermeiden, konnte aber nicht widerstehen. Es ist mein Eindruck vom Jahrhundert, wenn ich darauf zurückblicke. Gerade, wenn ich mir vor Augen führe, wie schnell sich die Dinge in diesem Jahrhundert veränderten, im Vergleich mit den Jahrhunderten zuvor. Mir kommt es vor, als wäre das Millennium, der Wechsel des Jahrtausends, in nur einem Jahrhundert vollzogen worden. Wie viele Revolutionen es auf der Welt gab, die eine wirkliche Veränderung versprachen und wie die Zustande kamen. Letztendlich hängen wir aber weiter im Kapitalismus fest und es hat sich nichts wirklich geändert. Nur technische Details.

Sie vermissen also einen Fortschritt?
Mich erinnert das an die Chaos-Theorie und den Flügelschlag eines Schmetterlings, der einen Sturm auslöst. Wir haben nur ein wenig Wind auf dem Pazifik verursacht. In den griechischen Bürgerkriegen der 60er- und 70er-Jahren sollte sich die Welt verändern. Nichts ist passiert. Es wurde eher schlimmer als besser.

Beschreiben Sie damit auch die aktuelle Situation?
Ja. Aber damit es besser werden kann, muss es in Griechenland noch schlechter werden. Wir sind noch nicht am Boden angekommen. Erst wenn wir da ankommen, kann es wieder aufwärts gehen. Ich will diese bittere Stimmung einfangen, das Gefühl betrogen und gescheitert zu sein. Das Gefühl, das die Generation meiner Eltern kannte und wir gerade erfahren.

Das spiegelt sich auch im Setting Ihrer Geschichte. Die Stadt wirkt ausgestorben, wie eine Geisterstadt.
Die Stadt wurde von einer Firma gegründet und als eine Art Utopie auf dem griechischen Land geschaffen. In den 60ern, in denen alle Hirten waren und mit ihren Ziegen und Schafen dort lebten. In kurzer Zeit entstand dort diese Stadt um eine Miene herum. Wie ein Versprechen, das die industrielle Entwicklung Griechenlands vorwegnehmen würde. Jetzt ist es eine Geisterstadt. Das hat viele Gründe, so benötigt man dank durch Maschinen automatisierte Arbeitsprozesse statt 4.000 nur noch 500 Arbeiter. Die Stadt mit der dort herrschenden Aura und Atmosphäre ist ein lebendes Monument.

Eine Besonderheit des Films ist das Verhältnis von Vater und Tochter, in dem offenbar nie eine Mutter eine Rolle spielte…
Beide sind Misanthropen. Sie haben einen eigenen Code um miteinander zu kommunizieren. Wie in einem Buddy-Movie. Ich mag die Idee, dass sich die beiden austauschen, was aber eher einer Handelsbeziehung gleichkommt, in der sie sich beschenken. Sie eint ihr Schicksal. Seine Tochter bietet ihm Liebe an. Auf ihre sehr freiheitliche Weise. Eine besondere Weise, in der sich jeder von seinen Eltern lösen muss.

Was häufig sehr schwierig sowohl für Eltern, als auch Kinder ist…
In Griechenland ist das ein Riesenproblem. Dort leben Kinder und Eltern für immer zusammen. Eltern kümmern sich um ein Haus, in dem alle Kinder Platz finden. Auch wenn sie heiraten. Das sind richtige Clans. Die Kinder verlassen nie das Haus. Daraus entstehen unglaubliche Neurosen. Neurosen, die über Generationen erhalten bleiben. Grauenhaft. Eine emotionale Paranoia entsteht. Ich konnte es nicht erwarten die Schule zu Ende zu bringen und zu gehen. Meine eigene Stimme zu finden, zu tun, was ich mochte. In Griechenland sagen die Eltern ihren Kindern, was sie zu tun haben. Dass sie Anwalt, Arzt oder Lehrer werden. Nur sehr wenige Eltern lassen ihren Kindern eine Wahl. Eine eher rückwärts gewandte Gesellschaft. Wir haben den Schritt aus diesen archaischen Verhältnissen heraus noch nicht geschafft.

Sind Festivals für Sie als Filmemacherin und ehemalige Festivalorganisatorin wichtig?
Klar, sie sind ein Vertriebsweg und bieten eine Möglichkeit mein Publikum zu erreichen. Mein Film lief mittlerweile auf über 60 Festivals.

Attenberg“ feierte seine Premiere in Venedig. Hatte das einen besonderen Effekt?
Ja, das hilft dem Film. Man versilbert ihn damit. Gerade wenn er Preise gewinnt. Und es hilft dem Filmemacher und seiner Moral. Wir hätten nie erwartet, mit einem solch kleinen Film in den offiziellen Wettbewerb zu kommen. Die Premiere meines Films in diesem historischen Gebäude war sehr aufregend.

Die Fragen stellte Denis Demmerle

Attenberg“ ist am 10. Mai in der Reihe „Neues Griechisches Kino“ im Kino Arsenal zu sehen. Athina Rachel Tsangaris wird ihren Film persönlich vorstellen.

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