Rückblick auf das 8. achtung berlin Festival

Berliner Lebensgefühl



Noch authentischer geht es in dem Dokumentarfilm „Giftchen“ von Konrad Kästner zu. Ohne voyeuristischen Blick, da selbst betroffen und involviert, begleitet der Macher seine Protagonisten, darunter seine Mutter, über eine längere Zeit bei dem Versuch, ein Leben ohne Alkohol zu meistern. So wird der Film zu einem Prozessdokument. Was dieses wertvoll macht, ist die Tatsache, dass hier mit dem Klischee des Alkoholikers als „Penner von der Straße“ nachhaltig gebrochen wird. Zudem überzeugt der Film mit seiner im Titel suggerierten Aussage, dass die legalisierte Gesellschaftsdroge Alkohol immer wieder und nur all zu oft verharmlost wird.

Besonders lebensnah überzeugt auch die Protagonistin Lena (Luise Helm) in dem mittellangen Facebook-Drama „Die Essenz des Guten“ von Maxim Kuphal-Potapenko. Der Film im Film, mit Handkamera gemacht, scheint den Liebeskummer von Lena prozesshaft zu begleiten. Dabei enthüllt er die Fallen, die sich bei der Bewältigung des Trennungsschmerzes stellen können, wenn Lena die Wirklichkeit verfälscht wahrnimmt, indem sie ihrem Ex über Facebook nachstellt. Die Leistung des Films besteht darin, dass der Kummer berührt und nachvollziehbar wird, unabhängig davon, ob man nun social-networking betreibt oder nicht und, dass der Regisseur und Kameramann selbst eine Entwicklung durchmacht. Er entwickelt sich vom seinem zunächst eher voyeuristisch wirkenden Interesse hin zu einem verständnisvollen Freund, der am Schluss selbst vor die Kamera tritt.

Überhaupt ist es den in diesem Jahr stark vertretenen mittellangen Filmen oft gelungen, Stimmungen zu zeigen und Geschichten zu erzählen, indem eben nicht alles auserzählt wird. So zum Beispiel in „Rauch“ von Franziska Krentzien. Die Öde im Land Brandenburg wird in „Und-täglich-grüßt-das-Murmel-Tier“-Dramaturgie in seiner langweiligen Endlosschleife angedeutet. Dem entgegengehalten wird eine merkwürdig anmutende Western-Ästhetik, die ein bedingtes Freiheitsgefühl assoziiert. Denn mit dieser Freiheit kann man hier mangels Möglichkeiten bis auf gemeinsame Kneipenbesuche mit den Kollegen nicht viel anfangen.

In beklemmender Stille folgen wir Lilli (Mila Böhning) in dem mittellangen Wettbewerbsbeitrag um das Burn-out-Problem ihrer alleinerziehenden Mutter, erzählt aus der Sicht des Kindes. Regisseur Jan Buttler bürstet in „Lilli, Lilli“ die Situation vernachlässigter Kindern gegen jedes Klischee, wenn er davon erzählt, wie die etwa 10-jährige Tochter die Verantwortung für sich, ihren jüngeren Bruder und ihre am Burn-out-Syndrom leidenden Mutter übernimmt, die aber keineswegs in asozialen Verhältnissen, sondern gut situiert leben. Das genaue Hinsehen, ohne Pauschalurteilen zu verfallen, ist dann auch Thema in „Gib mir noch ein Jahr“ von Curtiz Burz. Der Film um die tragische Vater-Sohn-Beziehung wird mit dem Preis der Ökumenischen Jury gewürdigt.

Die Zitty-Leser-Jury hingegen würdigt die gelungene Komödie „Another Fucking“ der Theater-Schauspielerin Katharina Marie Schubert, die hier Regie führte und vor der Kamera stand, in der Kategorie „Bester mittellanger Film“. Dass hier kräftig mit dem Rollenverhalten der Geschlechter gespielt wird und das Tempo der schlagabtauschkräftigen Dialoge der Filmlänge entspricht, trifft offenbar auf das Gefühl junger Großstadtmenschen. Aber auch mit seiner vernunftgesteuerten Erkenntnis spricht Georg (Hans Löw) wohl vielen aus dem Herzen, wenn er resümiert: „Das Leben ist kein Hobby mit über 30. Man muss sich ordnen, disziplinieren, damit man noch zu etwas kommt in dieser Stadt.“

"Stolz des Ostens": Es ist Sommer in der Uckermark. Anstatt in den Urlaub zu fahren, muss der 8-jährige Tobi zu Hause bleiben.

"Stolz des Ostens": Es ist Sommer in der Uckermark. Anstatt in den Urlaub zu fahren, muss der 8-jährige Tobi zu Hause bleiben.

Amüsant ist auch der mittellange Beitrag „Stolz des Ostens“ von Christoph Wermke. Diese amüsante sozialkritische Kurzkomödie erzählt, wie sich ein Junge in der Uckermark erfolgreich gegen das Vermieten der Wohnung und insbesondere seines Zimmers wehrt. Das Geschehen wird aus Sicht des Jungen erzählt. Der achtjährige Tobi (Patrick Lorenczat) macht keinen Hehl darum, dass er mit der Situation unzufrieden ist, auf sein Reich verzichten zu müssen, damit fremde Leute für Geld bei ihnen Urlaub machen können. Schließlich findet er die richtige List, um der Idylle ein Ende zu machen: Er deckt den Seitensprung des Besuchers mit der Vermieterin, also seiner Mutter, auf. Erfrischend, in guter Dramaturgie und einem guten Drehbuch schafft der Film eine Gesamtaussage dahingehend, dass Kinder ihren eigenen Weg finden können, mit Problemen umzugehen.

Leicht ossig geht es auch in „Auszeit“ von Sven Wegner zu. Eine Gruppe von Fußballern fährt in den Kurzurlaub. Doch dort findet sie nicht den gebuchten Service vor. Es gibt kein Fußballfeld, und die Bungalows sind klein. Hier – auf dem Campingplatz in Brandenburg – scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. So wird die Gruppe plötzlich mit sich als Individuen konfrontiert, statt wie geplant zu kicken. Die Protagonisten müssen sich zwangsläufig miteinander auseinander setzen, da sie keine weiteren Beschäftigungsmöglichkeiten haben und es auf engem Raum zusammen aushalten müssen. Zunächst vermutet man eine Vertiefung psychischer Konflikte, die dann, ähnlich wie im Dänischen Kino, enthüllt werden. Aber leider hält die Geschichte nicht das, was sie zu Anfang verspricht. Stattdessen findet sie ihren Ausklang im Scheitern der Beziehung nur eines der Protagonisten, nachdem dieser wieder in den eigenen vier Wänden verweilt.

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