Festivalbericht vom Nowe Horyzonty Film Festival in Wroclaw

Die große Liebe zum Kino


 "Shock Head Soul": Ein Film über einen paranoid-schizophrenen Menschen namens Schreber.

"Shock Head Soul": Ein Film über einen paranoid-schizophrenen Menschen namens Schreber.

Es gibt Filmfestivals, die sind so toll, dass man am liebsten niemandem davon erzählen möchte, um sie ganz für sich allein zu behalten. Deswegen müssen wir an dieser Stelle davon berichten, dass das Nowe Horyzonty (auf deutsch „Neue Horizonte“) Filmfestival in Wroclaw (Breslau), Polen ganz und gar nicht zu empfehlen ist. Wir wollen am Liebsten gar nicht weiter darüber sprechen, dass im Juli das Wetter dort fantastisch ist, die Leute unglaublich freundlich, die Unterkünfte sehr kostengünstig und die Filmauswahl superb. Also bitte gehen sie weiter, es gibt dort nichts zu sehen!

Doch ganz ehrlich, wenige Filmfestivals sind mit so viel Liebe zum Film und Achtung der Details gemacht wie dieses. Das Festival wurde als reines Cineastentreffen in einer Kleinstadt in Polen, in der Nähe von Wroclaw gegründet und zog nach drei sehr erfolgreichen Ausgaben in die Großstadt um, in der es sich von Jahr zu Jahr mehr etabliert hat.

Heutzutage ist das Nowe Horyzonty fester und in der Stadt sehr beliebter Bestandteil der Kulturszene. Überall hängen Plakate, jeder unterstützt die Cineasten, die sich in den zwei großen Multiplexkinos der Stadt für zehn Tage einnisten und Hollywood-Fließbandware durch Filmkunst ersetzen. Ihr Enthusiasmus hat dabei schon so weit um sich gegriffen, dass eines der Multiplexkinos demnächst zu dem ersten Arthouse-Multiplex umgewandelt werden soll – EU Sponsoring sei Dank. Das Festival an sich ist ganz und gar danach ausgerichtet, einem sinnesfreudigen und filmhungrigen Publikum Futter zu bieten, von dem sie mindestens ein Jahr – also bis zur nächsten Festivalausgabe leben können. Da in Polen, genau wie in Deutschland auch, viele Arthouse-Filme und Festivalfilme gar nicht in den Kinos ankommen, hat das Festival eine besondere Sparte eingerichtet: Es gibt eine Sektion, die ausschließlich ein Best-of der letzten Filmsaison zeigt, als Nachspielkategorie sozusagen. Das ist eine fantastische Idee, selbst Filmkritiker wie wir, die viel sehen und sich auf mehreren Filmfestivals im Jahr wieder finden, haben nicht alle sehenswerten Werke gesehen. Gleichzeitig gibt diese Kategorie auch die Möglichkeit, sich das Filmtreiben außerhalb der großen Studios auch in einem zeitlichen Kontext anzuschauen.

Insgesamt teilt sich das Festival in zwei Wettbewerbssektionen, eine für den Internationalen Wettbewerb und eine für Kunstfilme, darunter Experimentalfilme und Dokumentationen aus aller Welt, Retrospektiven und Sektionen, die sich auf Länderschwerpunkte und Genreschwerpunkte konzentrieren. Zusammen macht das eine unglaubliche Menge von über 450 Filmen in zehn Tagen. Dabei ist erstaunlich, was für ein starkes Line-Up aufgetischt wird. Gleich mehrere Filme wie Michael Hanekes „Liebe„, Leos Caraxs „Holy Motors“ und Ulrich Seidls „Paradies: Liebe„, die vor zwei Monaten erst im Wettbewerb in Cannes zu sehen waren, finden sich in Wroclaw wieder. Das hätte man vom Filmfest München (hier unser Bericht), einem sehr alt eingesessenen Festival eigentlich auch erwartet. Ebenso mit dabei Carlos Reygadas´ neuer Film „Post Tenebras Lux„, ebenfalls ein Cannes-Film, der im Rahmen einer Reygadas Retrospektive gezeigt wird.

http://www.youtube.com/watch?v=WuzIX8iNmnA

Besonders empfehlenswert sind aber die Teilnehmer am Kunstfilmwettbewerb – solch vielfältiges, eklektisches Kino sieht man selbst auf Filmfestivals recht selten. Viele der Filme spielen mit den Grenzen des Kinos, mit neuer Multimedialität, mit dem Verwischen der Grenzen zwischen Fiktion und Realität. Besonders interessant ist hier Florian Habichts „Love Story„, ein Film, der beginnt, indem der Regisseur eine Frau auf der Straße in New York trifft – eine Liebesgeschichte eben. Doch Habicht macht daraus wunderbar warmherziges, selbstreferenzielles Erzählkino, das sich neu definiert. Denn mitten in der Handlung unterbricht er diese und fragt Passanten auf der Straße, wie sie weiter gehen soll, seine Geschichte. Ähnlich verfährt Simon Pummells „Shock Head Soul„, ein Film über einen paranoid-schizophrenen Menschen namens Schreber, der 1903 ein Buch über seinen Zustand schrieb. Pummell lässt ganz klassisch seine Geschichte erzählen, doch gleichzeitig kommentieren Psychoanalytiker diese aus der modernen Sicht der Psychotherapie und ordnen diese immer wieder in unser heutiges Wissen ein.

Neben der Carlos Reygadas und der Ulrich Seidl-Retrospektive widmete sich das Festival dieses Jahr auch dem mexikanischem Film und dem Subgenre der Mockumentaries. Vor allem bei letzterem haben die Kuratoren wahre Schätze ausgegraben. Wer wusste schon, dass der „Herr der Ringe„-Regisseur Peter Jackson einmal eine herrlich böse Mockumentary namens „Forgotten Silver“ gemacht hat, in der er behauptet, dass Neuseeland der Ort sei, an dem das Kino eigentlich geboren wurde. Natürlich auch dabei der Klassiker „Spinal Tap“ und der belgische „Man Bites Dog„, der die Macharten vieler Dokumentationen aufs Korn nimmt und ihren ethischen Kern hinterfragt, indem er dem Zuschauer einen angeblichen Auftragskiller zeigt, der das ihn begleitende Kamerateam dazu bewegt, ihm beim Töten zu helfen.

Wem das alles nicht genug Argumente sind, nächstes Jahr nach Wroclaw zu pilgern, dem sei noch nahegelegt, dass allabendlich, wenn man keine Lust mehr auf Filme hat, auch Konzerte ausgewählter Künstler geboten werden. Dann kann man den Tag mit einem Büffelgras-Wodka on the rocks und Coco Rosie oder Peaches ausklingen lassen. Aber wie wir schon erwähnten, das Nowe Horyzonty Film Festival ist nicht wirklich empfehlenswert und wir hoffen natürlich, dass wir uns dort nächstes Jahr nicht sehen.

Beatrice Behn

Der Artikel erscheint mit freundlicher Genehmigung des Online-Magazins kino-zeit.de.