Rückblick auf das 9. Indische Filmfestival Stuttgart

Tabubruch und Plastikelefanten


"Cafe Regular, Cairo": In einem Café diskutiert ein junges Paar über Dinge, die bisher nie zur Diskussion standen.

"Cafe Regular, Cairo": In einem Café diskutiert ein junges Paar über Dinge, die bisher nie zur Diskussion standen.

„Ich möchte, dass wir Sex haben.“, sagt die schöne Frau mit Kopftuch zu ihrem Freund, kurz bevor der Kellner die bestellte Limonade bringt. Ihr Freund ist schockiert – aus seiner traditionellen Sicht ist ihr Vorschlag eine Provokation. Zwischen den beiden entspinnt sich ein Streit, der die Fragen der Ehe, der Jungfräulichkeit, der freien Wahl des Sexualpartners und schlussendlich der Liebe thematisiert. Ritesh Batra, der für seinen kurzweiligen Short „Café Regular, Cairo“ (Ägypten/Indien 2011) den German Star of India in der Kategorie „Kurzfilm“ erhielt, blickt mit seinem Beitrag auf die Veränderungen in traditionellen, religiösen Gesellschaften. Damit verkörpert er eine Generation junger, indischer Filmemacher, die sich den Tabus der indischen Gesellschaft widmen und zeigt sogleich auf, dass das indische Kino vielfältiger ist als sein Ruf.

Batras Beirag passte damit perfekt in das Programm des diesjährigen 9. Indischen Filmfestivals in Stuttgart, das vom 18. bis 22. Juli stattfand und erst im April 2012 den Namen „Bollywood Filmfestival“ ablegte und ihn in den Untertitel „Bollywood and beyond“ verbannte. Neben diversen Spielfilmen, Dokumentarfilmen und Kurzfilmen gab es im Rahmenprogramm auch Tanzkurse und Tea Talks zu Themen wie Korruption oder Intersexualität. Dass die mentale Verknüpfung zwischen indischem Kino und Bollywood nicht einfach durch eine Titeländerung zu lösen ist, zeigte jedoch schon der pompös aufgemachte Eingang in die Metropol-Kinos: Mit rotem Teppich, einem lebensgroßen, geschmückten Plastikelefanten sowie ohrenbetäubenden, indischen Klängen erinnerte das Festival an altbekannte Stereotypen, die mit Filmen wie „Teri Meri Kahaani„, „Ek Main Aur Ekk Tu„, „3 (Three)“ oder Shah Rukh Khan in „Don 2 – The King is Back“ bedient wurden.

Das Gegenprogramm zu grellen, bunten Lovestories mit Happy End lieferte erwartungsgemäß das Dokumentarfilmprogramm, das sich – neben Filmen über bestimmte Landstriche Indiens oder Trekkingtouren – auch den wichtigen Themen Gender, Umwelt und Menschenrechte zuwandte. Die Jury honorierte diesen Einsatz für unbequeme Wahrheiten, in dem sie den German Star of India in der Kategorie „Dokumentarfilm“ an Rama Raus „The Market“ vergab.  „The Market“ (Indien 2010) befasst sich mit dem globalen, illegalen Organhandel und beleuchtet dabei sowohl die westliche Seite (die Empfänger von Nieren etc.) als auch die indische Seite (die Slumbewohner der Region Chennai, die Teile ihres Körpers für einen Jahreslohn verkaufen). Mit schockierender Dringlichkeit erforscht Rau die Motivationen und ethischen Grundsätze, die dem Organhandel zu Grunde liegen. Dabei verweist sie auf die komplexen, globalen Zusammenhänge, die den Handel ermöglichen und verzichtet auf Vereinfachungen oder Schuldzuweisungen. Wie der florierende Organhandel das Selbstverständnis der chennaischen Gemeinschaft verändert, fasst ein Fischer in erschütternden Worten zusammen: „Früher haben wir Fischteile auf dem Markt verkauft, nun schneiden wir Teile aus unseren Körpern heraus und verkaufen sie.“

Die Regenwolken ziehen tief, endlich beginnt es zu regnen. Ram Krishna lacht – es ist einer der wenigen Momente im Film, die ihn lachend zeigen. Krishna ist ein Bauer der Dorfgemeinschaft Maharashtras, die vom Anbau von Baumwolle immer weniger leben kann. Alle halbe Stunde nimmt sich ein Bauer das Leben, weil er die Schulden für die Bestellung seines Landes nicht mehr abbezahlen kann, weil ihm das Land von Geldverleihern genommen wurde. Die steigenden Suizidzahlen sind eine Spätfolge der Einführung hybrider Samen und genmanipulierter Samen, die ein Vielfaches kosten und Unmengen an Pestiziden und Insektiziden verschlingen. Einziger Samenlieferant: Das amerikanische Milliardenunternehmen Monsanto, das jegliche Zusammenhänge zwischen den Selbstmorden und den genmanipulierten Samen bestreitet. Micha X. Peleds Dokumentarfilm „Bitter Seeds“ (USA/Indien 2011) zeigt den Kampf des Bauers Ram Krishna um die nächste Ernte, die darüber entscheidet, ob seine Familie das Land verliert. Es ist ein intensiver, ein nahezu unmittelbarer Film, der von seinen Figuren lebt, vor allem von Krishna, dessen hageres und charismatisches Gesicht ein Abbild der Qual ist, die er durchleben muss.

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