„Nouvelle Vague“-Retrospektive im Babylon Mitte

Montag und sein Rentenanspruch


Jean-Pierre Léaud (links) eröffnet im Podiumsgespräch die Retrospektive. Foto: Babylon Mitte

Jean-Pierre Léaud (links) eröffnet im Podiumsgespräch die Retrospektive. Foto: Babylon Mitte

Jede Filmschule nutzt ein Muster statistischer Art, das Erwartungshaltungen aufbaut über das mehr oder weniger wahrscheinliche Eintreffen der kommenden Ereignisse. In einer französischen Bewegung der ausgehenden 1950er waren es nicht selten undramatisch angedeutete Leidensmomente beim Kotzen, beim Pilleneinwerfen, beim sinnlosen Starren auf die Füße. Eine Überantwortung des kleinen Egos an das ewige Sein. Man merkt der Nouvelle Vague schon an, dass ihre Vertreter oftmals Erfahrung als Filmkritiker mitbrachten. Alle hatten eine Affinität für Jean Renoir, Howard Hawks und Alfred Hitchcock. Aber sie kopierten sie nicht plump, denn sie wussten um den inneren Zusammenhang einer filmischen Erzählung, die der Zuschauer nicht nur bewusst erlebt, sondern auch über solche Elemente wahrnimmt, die bei der Rezeption im Bereich des Vorbewussten verbleiben. Das Extemporieren mit Schauplätzen und Montage, Figuren und Kino-Leitbildern, mit Kamerabewegungen und Kameraeinstellungen – François Truffaut, mehr Elfenbeinturm als Legende, wird am 18. Januar die „Nouvelle Vague“-Retrospektive im Kino Babylon Mitte eröffnen. Schließlich gehen nicht nur seine Filme seit den siebziger Jahren in demselben Maß ökonomisch auf, in dem sie künstlerisch zusammenfallen. So feiert die „Neue Welle“, die mittlerweile auch Rentenanspruch geltend machen müsste, sich selbst.

Beginnen tut das Ganze, neben dem Eröffnungsfilm „La nuit américaine“ und einem Filmgespräch mit Hauptdarsteller Jean-Pierre Léaud,  mit dem wohl ungewöhnlichsten Film dieses Genres, dem Science Fiction Film „Fahrenheit 451„. Dort legt der Feuerwehrmann Montag Feuer, statt Feuer zu löschen. Er verbrennt Bücher, denn in seiner Gesellschaft ist es verboten, Bücher zu besitzen oder zu lesen. Eines Tages beginnt er selbst zu lesen, wird verraten und flieht in die Wälder, wo die Büchermenschen leben, die ihre Lieblingsschmöker auswendig gelernt haben, um sie der Nachwelt zu erhalten. Es ist eine zukünftige Welt, die ihre Vergangenheit auslöscht.

Dies sorgt für eine Brechung der Authentie-Eindrücke bzw. modifiziert dieselben. Und statt jene früher angestrebte, distanziert beobachtende Haltung des Zuschauers herzustellen, provoziert die Stumpfheit Montags eine permanente innere Unruhe, so dass statt schönem Gruseln eher hektischer Ekel herbeigeführt wird. Angesichts anonymer Manipulation und Bedrohung kann auch der Held nur anonym bleiben: ein Rumpf, mit dem man sich nicht mehr identifizieren kann. Montags Beziehungen zu anderen Menschen sind total versachlicht, im Beruf auf das Vernichten, im privaten Leben auf kommunikative Kurzformeln. Unmenschlichkeit zeigt sich in dieser Ordnung weniger im Verbot der Kommunikation als in der Bereitwilligkeit der Betroffenen, Verbote zu akzeptieren. Danach geht es mit Schwips, Gauloises und Tartar weiter.

So gibt Godards „Die Verachtung“ die Klinke in die Hand von Truffaut, der sie angesäuert auf „Tisch und Bett“ legt. Er kriegt sich gar nicht mehr ein und es laufen in kurzer Zeit hintereinander „Sie küssten und sie schlugen ihn“, „Schießen sie auf den Pianisten“, „Jules und Jim“ und „Die Braut trug schwarz„. Es wird heute leider zu oft angenommen, dass filmische Repräsentation sich als Realität missversteht. Glücklicherweise bemühen sich die hier gezeigten Filme nicht im Geringsten um ihre eigene Verleugnung. Die Nouvelle Vague ist ein Genre von Cineasten für Cineasten. Eine Art „Liebe auf der Flucht„.

Joris J.

„Nouvelle Vague“-Retrospektive, 18. januar bis 3. Februar, Babylon Mitte, Programm unter www.babylonberlin.de