Interview mit „Alleine Tanzen“-Regisseurin Biene Pilavci

Wie stark prägt uns die eigene Familie?


Familie Pilavci während der Hochzeitszeremonie in Greichenland

Familie Pilavci während der Hochzeitszeremonie in Greichenland

Der Titel „Alleine Tanzen“ transportiert eine besonders melancholische Form der Einsamkeit, die auch im Film vermittelt wird. Ist er Dir erst bei der Arbeit an dem Film in der Sinn gekommen oder ist er eine Art Lebensmotto für Dich?
Der Kurzfilm über meine Schwester Ilknur trug bereits diesen Titel. Sie war es, die dem Film den Namen gab. Es gibt darin eine Szene, in der sie mit ihrem Ehemann tanzen will, er sich aber partout weigert. Um ihr Gesicht zu wahren, tritt Ilknur die Flucht nach vorne an und tanzt ganz alleine vor der Kamera. Dieses Bild spiegelt unser aller Lebenswirklichkeit wieder.

Wie wichtig war Dir das Thema Wahrheit – vor allem in Bezug auf die Missbrauchsvorwürfe? Ging es Dir darum, herauszufinden, wer in diesem Fall die Wahrheit sagt oder war das Nebensache?
Wir sind doch alle auf der Suche nach Wahrheit, oder? Diese Suche brachte mich zuweilen fast bis zum Rande des Wahnsinns. Und nicht nur mich. Unzählige Bücher wurden darüber schon geschrieben. Natürlich können wir das alles jetzt hier nicht erörtern, zumal deine Frage ja konkret auf die Fakten in meiner Familiengeschichte abzielt. Die Wahrheit, die du meinst, ist keinesfalls nebensächlich. Ich würde sagen, sie ist die Spitze des Eisbergs. Sie zeigt mir, wie sehr wir alle geliebt werden und lieben wollen.

Was waren die größten Herausforderungen bei den Dreharbeiten?
Nicht durchzudrehen. Nein, im Ernst – das Switchen zwischen den Rollen als federführende Erzählerin, Teammitglied und Angehörige ist nicht zu unterschätzen. Doch die meisten Schwierigkeiten waren miteinkalkuliert, selbst die Möglichkeit, dass aus dem ganzen Projekt nichts wird, und die Protagonisten oder ich es jederzeit abbrechen dürfen. Diese recht entspannte Grundsituation gab mir die nötige Gelassenheit, immer weiter zu gehen und nicht locker zu lassen. Zumal die Protagonisten es selbst waren, die den Film jedes Mal aufs Neue retteten, reich beschenkten und ihm unerwartete Drehungen gaben. Als beispielsweise meine Schwester Samira Ilknur nach einer Karikatur in ihrer Küche fragte, die Ilknurs Familie zeigt, begann Ilknur auf einmal, über ihre Ehe, ihren Mann und sich selbst zu reflektieren. Das war spannend und völlig ungeplant.

In einem der vielen emotionalen Momente scheint deine distanziert wirkende Haltung während der Dreharbeiten kurz aufzubrechen – als Ali erzählt, der eigentliche Auslöser für Deine Flucht aus der Familie sei gewesen, dass er Dich geschlagen hätte. Wie hast Du diese Situation erlebt und wie wichtig war es für Dich, diese Szene im Film zu zeigen?
Mir wurde in diesem Moment schlagartig klar, dass sich Ali dies tatsächlich all die Jahre einredete. Dieses Bild ist wirklich bezeichnend für unsere Dysfunktionalität. Wie viele Schuldgefühle muss sich Ali aufgeladen haben, wie viel Frust muss sich in ihm aufgestaut haben? Aus filmemacherischer Sicht stellte sich die Frage nach zeigen oder nicht zeigen nicht, denn gerade dieser Moment ist ein absolutes Schlüsselerlebnis im Film. Weniger inhaltlich, sondern weil sich endlich ein Gefälle auftut. Zuvor ist Ali in seiner patriarchalen Verhaltensweise schon recht beeindruckend. Doch als er sich plötzlich öffnet und damit seine Verletzlichkeit preisgibt, rührt er uns zutiefst und nimmt uns alle mit seiner entwaffnenden Ehrlichkeit mit – absolut unverzichtbar.

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