Das Venedig-Blog 2013

Das Venedig-Blog 2013


Fulminant eröffnete heute nun auch die Sektion „Settimana della Critica“, kurz SIC, ihr Programm der 70. Filmfestspiele. Sie zeigte das neue und herausragend poetische Werk des Comiczeichners und Regisseurs Alessandro Raks „L’Arte della felicità„. Zentrum des Films bildet die große Frage, ob es Glück auch ohne eine Zukunft geben kann. Angesiedelt in Neapel versteht sich diese Frage als scharfe Anklage auf die bestehenden Verhältnisse und Missstände, die Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit, die eine ganze Gesellschaft lähmt. Durch die Augen eines erdrückend-deprimierten und kurz vor der Explosion stehenden Taxifahrers erlebt der Zuschauer die vielen Missstände in der Stadt, darunter auch das Müllproblem, die wie Blei auf seinen Schultern zu liegen scheinen. Doch niemand begehrt mehr auf, eigentlich haben sich ohnehin alle daran gewöhnt und nur ein paar Rentnerinnen echauffieren sich regelmäßig mit gebrochener Stimme. Einen Gemeinschaftssinn sucht man vergeblich. Jeder ist sich selbst der nächste. Die Zustände sind schlimmer als katastrophal und die einzige Chance im Chaos zu überleben, ist die Resignation. Doch die steuert auf den Abgrund zu.

Mit feinem Auge und dem Gespür für Details tritt Alessandro Rak mit seinem nahezu dokumentarisch animierten Film und herausragender visueller Perfektion in den direkten Dialog mit dem Zuschauer. Seine mitten aus dem Leben gegriffenen Protagonisten sind Abbilder eines italienischen Alltags. Jeder im Saal weiß, wovon Rak sprich, kennt die immer gleichen Alltagsfloskeln und das oft gedankenlose und zum Teil egozentrische Geplapper. Fast kann man den Regisseur rufen hören: Steht auf und empört euch. Stoppt den Wahnsinn! Nicht nur das italienisches Publikum wird sich hier vom Film angesprochen fühlen, eine gelähmte Gesellschaft mit massiven Problemen und Generationskonflikten gibt es überall. Und auch dort wäre es schon lange an der Zeit, Stephané Hessels Aufruf zu folgen. Es bleibt zu hoffen, dass schon bald auch ein deutscher Verleih auf diesen absolut sehenswerten Film aufmerksam wird und ihn nach Deutschland in die Kinos bringt.

Tag 3: Familiendramen und Extreme – der deutsche Beitrag im Wettbewerb

Die Nacht war kurz, der Tag wird lang und auf der Programmliste stehen am dritten Tag des Filmfestivals in der Lagungenstadt viele Filme, die über menschliche Abgründe sprechen wollen und Familiendramen schildern, wie David Gordon Greens „Joe“ oder auch der deutsche Wettbewerbsbeitrag Philip Grönings. 2005 zuletzt mit seinem Dokumentarfilm „Die große Stille“ am Lido gefeiert, seziert er im 70. Jahr des Filmfestivals mit „Die Frau des Polizisten“ ein deutsches Familienleben fast schon in Lars von Trierscher-Manier. Die in 59. Kapitel zerlegte – alle jeweils durch Zwischeneinblendungen „Anfang Kapitel….“ und „Ende Kapitel….“ gekennzeichnet – und in drei Stunden Filmlänge erzählte Geschichte um eine Frau, deren Mann zu unberechenbaren Gewaltausbrüchen neigt, ernetete bereits einige Kritkerschelte, jedoch zu Unrecht.

Gröning verweigert sich zwar den Bedürfnissen eines eher klassisch orientierten Kinopublikums, dass auf Stringenz und eine chronologisch erzählte Handlung hofft, doch Gröning weiß es besser, setzt nicht auf das allzu oft in Betroffenheitsformaten und überdramatisierten Formen umgesetzte und leicht erkennbare Sozialdrama. Gröning entscheidet sich für Fragmente, die sich zusammen erst zu einem kompletten Bild ergänzen und beinahe wie ein Fotoalbum lesen lassen. Zart und fast in Echtzeit, so meint man, inszeniert er den langsamen Verfall der Familie. Das Unheil kommt eben nicht von jetzt auf gleich, sondern schleicht sich ein, kommt in bedrohlichen Episoden, wird hingenommen und nistet sich ein.

Was Kritiker Gröning vereinzelt vorwerfen, ist im Grunde seine Stärke! Mit der bewussten Verlangsamung dieser fast unsichtbaren Prozesse, mit der Idee, den Film in Episoden und Momentaufnahmen zu erzählen, schafft Gröning es, die Alltäglichkeit der Exzesse allmählich normal erscheinen zu lassen. Und auch wenn neben den Kritikern auch einige Zuschauer am Nachmittag in der öffentlichen Vorstellung nicht genug Geduld und Sitzfleisch besitzen, um den Film nicht länger als 20 Minuten oder eine Stunde anzusehen, wäre dieser Film doch ein verdienter Anwärter auf einen Löwen, vielleicht sogar den Spezialpreis der Jury.

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