Das Venedig-Blog 2013

Das Venedig-Blog 2013


Tag 8: Schlaflos in Venedig
Nach 30 Filmen und 3122 min (52 Stunden) im Kinosessel und ca. 24 Stunden über die Tage angesammelten Schlafentzugs ist heute erst mal Ruhetag. Über das süße Leben und wie die Biennale d’Arte in Verbindung mit einigen Cayman Island Bewohnern in Verbindung steht, darüber morgen mehr.


Tag 9: Das Leben der Anderen oder Die gestohlene Stadt
Zurück im Land der Technik. Vom modernen Leben abgeschnitten, ohne Internet (sic!) und vor einige technische Voraussetzungen gestellt, können die letzten Tag leider nur zeitverzögert veröffentlicht werden. Dafür bittet die Autorin vielmals um Entschuldigung. Hier die Fortsetzung der Venedig-Berichterstattung:

Im Wettbewerb der 70. Filmfestspiele Venedigs sind erstmals zwei Dokumentarfilme. Darunter Errol Morris‘ „The Unknown Known„, ein für Morris typisch arrangiertes Interview a lá „Talking Heads“ und bebilderndem Archivmaterial zu Donald Rumsfeld und Gianfranco Rosis „Sacro GRA„. Rosi, bekannt für seine herausragenden Dokumentationen „Below Sea Level“ und „El Sicario – Room 164„, blickt mit seinem neuen Film hinter die Kulissen des „Grande Raccordo Annulare“ (des großen Autobahnrings in Rom), um das Leben von außen nach innen zu spiegeln. Zwischen Plattenbau, Villenviertel und der Straße spielt sich hier das Leben ab. Hier kreuzen sich die Wege verschiedenster Individuen, eines alten adligen Piemontesers, der sich mit seiner Tochter eine Einraumwohnung teilt, eines mit einer Ukrainerin verheirateten circa 60-jährigen Aalfischers, eines Prinzen, der sein Schloss für Foto-Story-Shootings zur Verfügung stellt und es als Bed & Breakfast betreibt, einem Sanitäter sowie in einem Wohnwagen lebende Transsexuelle und einem bizarren Botaniker, der versucht einer Palmen zerstörenden Insektenplage Herr zu werden. Entlang des Ringes erzählt Rosi in einer losen Ansammlung alltäglicher Momente, die Geschichte skurriler Typen, von Ausschluss und dem freiwillig oder unfreiwillig gewählten Leben in der Peripherie. Ein Film, der eher für den italienischen Markt funktioniert.

Gentrification auf venezianisch

Spannender sind dagegen, die sich hier vor der Nase abspielenden Geschichten aus einer der widerstandsfähigsten Metropolen der Welt: Venedig. Etwa 20 Millionen Touristen rammeln bei sieben Quadratkilometern Stadtfläche (historisches Zentrum) jährlich durch die winzigen Gässchen Venedigs und die Zahl wächst. Für viel Zündstoff sorgen unter diesen Umständen vor allem die Kreuzfahrtschiffe, die allein oft zwischen 3000 und 4000 Menschen auf einmal in die Stadt kippen. Bei mittlerweile vier Anlegeplätzen für schwimmende Städte und wie die Splendour of the Sea, Quantum of the Sea oder Anthem of the Sea ist schnell klar, wie viele Menschen sich hier zur Hochsaison auf der Insel tummeln. Straßen, Plätze und Brücken sind die verstopften Arterien eines vor dem Infarkt stehenden Herzens. Ein Kraftakt, den die erhabene Stadt geduldig und mit mütterlicher Größe erträgt.

Doch den Venezianern geht allmählich die Puste aus. Dank Internet, Lonely Planet, Michelin oder Marco Polo hat die erbarmungslose Invasion der Schirmmützenträger auch die letzten versteckten Plätze und Lokale erstürmt und den Anwohnern ihr Wohnzimmer aus den Händen gerissen. Und nicht nur das, seit vielen Jahren machen sich Oligarchen und internationale Milliardäre mit ihren Luxusyachten in der Lagune breit, privatisieren den einzigen noch übrig gebliebenen Schatz, den Panoramablick auf die Lagune und ihre Inseln. Touris wie Einheimischen bleibt die Sicht zwischen Tauen hindurch und jene an den Fähranlegestellen. Gentrification auf venezianisch.

Offensive Proteste gibt es keine. Jeder hat sich arrangiert mit einer Stadtverwaltung, die die Ufer der Lagune vergoldet, indem sie sie den Anderen, einer geschlossenen Gesellschaft zur Hälfte vermietet, damit sie hinter aufgestellten Zäunen nicht belästigt werden. Wo die städtischen Einnahmen hin fließen, scheint auch den Venezianern unklar. Jeremy Deller, englischer Konzept-, Video- und Installationskünstler, der in diesem Jahr den englischen Pavillion der Biennale d’Arte bespielt, kommentiert es in einem Bild und einem Satz: „We are starving amidst our gold“. In einem symbolischen Akt der Befreiung lässt er William Morris – Präraffaelit, Begründer des Art und Craft Movement und der sozialistischen Bewegung Großbritanniens – die 2011 an den Ufern der Biennalegärten vor Anker liegende Yacht des Oligarchen und Kunstliebhabers Roman Abramowitsch zurück ins Meer schleudern.

Ausblicke: Die Phoenix 2 Bild mit ihrem Zaun. Foto: SuT

Ausblicke: Die Phoenix 2 Bild mit ihrem Zaun. Foto: SuT

„Reich und Schön“ juckt dieser Kommentar jedoch recht wenig im Pelz. Allein in diesem Jahr liegen mit der Phoenix 2, der Tatoosh und der Alfa Nero bereits drei der oft auf den Cayman Island registrierten Luxusyachten am prestigeträchtigsten Teil der Lagune und sperren die Promenade erneut zur Hälfte für den Publikumsverkehr. Wen interessiert, wer sich hier die öffentlichen Plätze einverleibt, findet Antworten im Superyachtfan-Register: Paul Allen (Mitbegründer von Microsoft, Tatoosh), Jan Kulczyk (dem Forbesmagazin zufolge reichster Mann Polens, Phoenix 2) und der ebenfalls im Ölgeschäft tätige Grieche, der Tankermagnat Theodore Angelopoulus (Alfa Nero). Zu Recht fletschen manche Venezianer allmählich ihre Zähne und reagieren passiv aggressiv, wenn man ihnen in die Quere kommt.

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