2014 – die Berliner Filmfestivals Redaktion blickt zurück

Marie Ketzschers Jahr in Filmen: Missionarischer Eifer


Alê Abreu tritt mit "The Boy and the World” (bras. Originaltitel: "O Menino E O Mundo") den Beweis an, dass der Kinderfilm im besten Fall auch ein Erwachsenenfilm ist, und umgekehrt. Foto: HKW

Alê Abreu tritt mit „The Boy and the World” (bras. Originaltitel: „O Menino E O Mundo“) den Beweis an, dass der Kinderfilm im besten Fall auch ein Erwachsenenfilm ist, und umgekehrt. Foto: HKW

Einige der Berliner Filmfestivals Autoren haben die Weihnachtstage genutzt und am Ende des Jahres einen dicken Strich unter ihr Kinojahr. Den Auftakt macht unsere Animationsfilm-Expertin Marie Ketzscher, die mit hochgehandelten Favoriten wie „Boyhood“ und „Her“ nicht viel anfangen konnte und sich 2014 lieber in zukünftige und animierte Welten flüchtete…

Die längsten Reisen waren in diesem Jahr oft die unmittelbarsten Erlebnisse: Hatte ich 2013 einen „Gravity“ noch verschmäht, gefiel mir in den letzten zwölf Monaten der Blick in die fernen, fremden Universen viel besser als der dokumentarische Zoom oder die sozialrealistische oder melodramatische Momentaufnahme. Allen fein säuberlich gehegten und gepflegten Zweifeln und Kritteleien zum Trotz wurde 2014 also mein persönliches Scifi- und Fantasy Filmjahr (obgleich „Interstellar“ noch ungesehen ist).

Animationsfilm-Expertin Marie Ketzscher arbeitet beim FMX in Stuttgart und besucht für Berliner Filmfestivals das weltweit größte Animationsfilm-Festival in Annecy.

Animationsfilm-Expertin Marie Ketzscher arbeitet beim FMX in Stuttgart und besucht für Berliner Filmfestivals das weltweit größte Animationsfilm-Festival in Annecy.

Dabei war es mir relativ gleich, ob diese futuristischen Filmhappen lediglich die Freude an der kurzweiligen Unterhaltung feierten wie „X-Men – Days of Future Past„, mit den gängigen Genrekonventionen des Märchens spielten („Maleficent„), sich in visueller Extravaganz und slapstickartigem (aber gut durchdachten) Humor überboten („Guardians of the Galaxy„), die eiszersetzte Apokalypse mit Marx durchleuchteten („Snowpiercer„) oder größenwahnsinnig Metallschutzschilde nach NSA und Überwachungsstaat schleuderten („Captain America: Winter Soldier„). Gemeinsam war diesen Filmfavoriten wohl lediglich, dass sie sich an ihrer metaphorischen Verfremdung rieben oder diese gar sprengten, und dass ihnen der missionarische Eifer abging.

Der Eifer stieß mir 2014 vor allem bei den Altmeistern des Mainstream oder Indiekinos auf. Was wollte Jonzes mit „Her“ von mir, mit dieser selbstverliebten, narzisstischen Hommage an die individualistische, entsolidarisierte Selfiekultur? Und warum kommentierte niemand den verkappten patriotischen Pathos, der sich in Richard Linklaters „Boyhood“ neben Ethan Hawkes Grinsen geschlichen hatte? Einzig Myazakis „The Wind Rises“ und Wes Andersons „The Grand Budapest Hotel“ konnten mich mit dem Kult-Hype versöhnen – beide Filme waren für mich beeindruckende Beispiele runder Filmerlebnisse, in denen Geschichte und Umsetzung harmonisch und glücklich in eins fielen.

Weiterlesen: Marie Ketschers Festivaltagebuch vom 38. Festival d’Animation Annecy.

Das wirkliche Glück bescherten aber in diesem Jahr vor allem das Animationsfilmfestival Annecy und die französischen Filmtage in Stuttgart. Im sommerlichen Frankreich war „The Boy and the World“ das reine Animationsglück. Die wunderbare gezeichnete und 2D-animierte Geschichte des kleinen Jungen Cuca, der loszieht, um seinen Vater wieder zu finden, und dabei unabsichtlich über die ganze Welt stolpert, ist warmherzig und leidenschaftlich. Ganz anders und höchstens im kapitalismuskritischen Ansatz vergleichbar: Céline Sciammas „Bande de Filles“ („Girlhood„), eine grandiose Coming-Of-Age-Story, die vor einem leider spärlich gefüllten Kinosaal bei den französischen Filmtagen zu sehen war. „Bande de Filles“ beschreibt das Überleben im echten Prekariat (nicht dem akademischen, gefühlten), die Mädchengang in den Banlieues wird von einem furiosen Ensemble rund um die Hauptdarstellerin Karidja Touré verkörpert. Beide Filme hatten eine Dringlichkeit in sich, die mich tief in den Kinosessel rutschen ließ. Für das nächste Jahr ist also die Weltkarte schon entfaltet und um das Weltall ergänzt – das magische Kino antizipiere ich in utopischen und dystopischen Universen, oder in französischen Gefilden. Die nächste Reise kann beginnen.

Marie Ketzscher

Hier ausführliche Kritiken zu einigen von Maries Favoriten…
The Boy and the World von Alê Abreu
– „Bande de filles“ („Girlhood„) von Céline Sciamma
Snowpiercer von Bong Joon-ho