BFF On The Road: Zu Besuch auf der 72. La Biennale Di Venezia

Der Blog zu den 2015er Filmfestspielen von Venedig


Tag 4: Der menschliche Faktor

Allmählich füllen sich die Säle wieder und auch alte Bekannte – kleine summende und verdammt gefrässige Mücken und eine Fledermaus – sind im Kinosaal zurück. Die Biester testen entweder die Nehmerqualitäten der bereits mit furchtbar juckenden Stichen übersäten Zuschauer oder fliegen während der Screenings durch das Kinodunkel über die Zuschauerköpfe hinweg. Wirkt fast wie vom Festival direkt gecastet. Die Festivalauswahl entpuppt sich seit immer weiter als sehr zärtlicher Jahrgang. Viele Bilder sind unglaublich sinnlich inszeniert oder delikat erzählt.

My heart is beating… tönt es von The XX aus den Boxen im Saal. Auf der Leinwand ein Laufband für ankommende Touristen an einem Flughafen in Sizilien, auf dem sich ein Kind im Kreis dreht und beginnt zu tanzen. Die nächste Sequenz ertrinkt im Schwarz der Leinwand, in der Dunkelheit eines Schmerz erstickten Herzens. Piero Messinas „L´Attesa“ („The Wait„), der es als Debütfilm direkt in den Wettbewerb geschafft hat, ist vielleicht DIE Entdeckung auf diesem Festival. Ein Körperkino, das mit seinen Bildern direkt in den Zuschauer hineinfließt, wie ein unsichtbares Band, das ihn mit Haut und Haaren einwickelt und zu verschlucken droht. Selten kann Kino so übermannen. Der Film erzählt vom Warten auf ein Wunder. Mehr sollte man zum Plot nicht wissen, denn der gesamte Film will im Verlauf erst entdeckt und erlebt werden. Nur so kann sich die komplette Erzählkraft des Filmes überhaupt entfalten. Angesiedelt in einer Art Mondlandschaft aus Vulkangestein, in der Umgebung der sizilianischen Stadt Ragusa verbindet Regisseur Piero Messina seine Geschichte mit der Tradition, dem Glauben und der Magie dieses Landstreifens. In einer der Hauptrollen Juliet Binoche, die mit ihrem minimalistischen und erschütternd zarten Schauspiel eine archaische Kraft entwickelt, die ihresgleichen sucht.

In "Equals" überfällt Liebe den entmenschlichten Bienenstock. Foto: Jaehyuk Lee/ Filmfest Venedig

In „Equals“ überfällt Liebe den entmenschlichten Bienenstock. Foto: Jaehyuk Lee/ Filmfest Venedig

Ganz ähnlich versucht es auch Drake Doremus („Like Crazy„) mit seinem Wettbewerbsbeitrag „Equals„. Eine Romeo und Julia Geschichte in nicht allzu ferner Zukunft. Während gegenwärtig noch der Wunsch existiert, Roboter und Computer zu vermenschlichen, haben sich in Doremus´ Zukunft die Menschen inzwischen in Robotern verwandelt. Gefühle sind tabu, was zählt sind Disziplin, Funktion, Struktur, Homogenität und Konformität. Individualität wird maximal in der Arbeitsteilung an diesem sterilen und von Einsamkeit beherrschten Ort, an dem nicht nur jeder seinen eigenen riesigen Arbeitstisch hat, sondern auch zur Mittagspause jeder an separaten Tischen zu sitzen hat, gewährt. Wer die Ordnung stört, wird zur eigenen Sicherheit weggeschlossen. Helle, klare, zum Teil pastellige, Farben dominieren den Alltag. Doch die können den Geist nicht genügend aufhellen, um die Suizide, die immer häufiger werden, seit sich der SOS Virus, das Switched On Syndrom, in der Bienenstock-artig angeordneten Gesellschaft ausbreitet. Tödliche Krankheiten wie Krebs sind bereits geheilt, doch jetzt ist die Bevölkerung von plötzlich auftretenden Gefühlen bedroht, die nur Liebe und Depression stiften und so Chaos in die Welt von morgen bringen. Eine Kur muss gefunden werden.
Equals“ ist ein kurzweiliger und wenig komplexer Film. Es sind die Bilder, der Cast und die Ausstattung, die den Zuschauer in ihrer Sinnlichkeit hin und wieder latent außer Gefecht setzen. Wie entsteht dieses sinnliche Gefühl Liebe in einer sterilen und auf Distanz setzenden Welt? Fakt ist, der menschliche Faktor, das plötzlich auftauchende Irrationale, das Unkontrollierbare, dem sich die beiden Hauptdarsteller Nia (Kirsten Stewart) und Silas (Nicholas Hoult) in fantastisch inszenierten Bildern voller Hingabe ergeben, ist eben doch zäher als die meisten in dieser Zukunft wohl vermutet hätten.

Tobias Lindholms "Krigen" zeigt im Orizzonti-Wettbewerb Krisengebieten, wo ausnahmslos der Ausnahmezustand regiert. Foto: La Biennale

Tobias Lindholms „Krigen“ zeigt im Orizzonti-Wettbewerb Krisengebieten, wo ausnahmslos der Ausnahmezustand regiert. Foto: La Biennale

Und last but not least sind es wieder einmal die Dänen, die für wundervoll humanistisches Kino stehen. Tobias Lindholm steht mit seinem Film „Krigen“ („A War„) im Orizzonti-Wettbewerb und erzählt von den Alltagskonflikten der Soldaten in Krisengebieten, wo ausnahmslos der Ausnahmezustand regiert. Während die eigenen Kinder zuhause am Telefon auf den Anruf über Satellitenfunk warten, werden in der Kampfzone in Sekundenbruchteilen richtige oder falsche Entscheidungen, vor allem für die zu schützende Zivilbevölkerung, getroffen. Kollateralschäden gilt es zu vermeiden. Doch wie realistisch ist so eine Forderung im Angesicht des Todes?
Die Lektion: Krieg ist hässlich, dreckig und unmenschlich. Großartig spinnt Lindholm seine Geschichte um Gewissenskonflikte und Fürsorgepflicht und beleuchtet die Ambivalenz von moralischen und ethisch korrekten Fragen. Dem Zuschauer geht dabei unablässig nur eine Frage durch den Kopf, wie würdest du entscheiden? Ein wirklich sehenswerter Film, der anders als so viele zumeist amerikanische Blockbuster weniger auf Effekt und Action setzt, sondern sich auf die Psychologie seiner Personen einlässt, und sich die Mühe macht, mit einigen Mythen und blinden Flecken über Armee, Krieg und Soldaten zu brechen. Die inneren Konflikte lässt der Zuschauer nicht im Saal, die brüten weiter im Kopf und werden da wohl auch noch einige Tage weiter verharren. Kino, das einen nicht einfach gehen lässt. Wunderbar!

SuT

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