BFF On The Road: Zu Besuch auf der 72. La Biennale Di Venezia

Der Blog zu den 2015er Filmfestspielen von Venedig


Filmemacher Yorgos Zois feiert mit "Interruption" sein Spielfilmdebüt am Lido und stellt in Frage... Foto: La Biennale

Filmemacher Yorgos Zois feiert mit „Interruption“ sein Spielfilmdebüt am Lido und stellt in Frage… Foto: La Biennale

Tag 8 + 9: Filmkunst vs. Kunstfilm

Als im Oktober 2002 im Moskauer Dobrowka Theater im zweiten Akt des patriotischen Musicals „Nord Ost“ ein maskierter Mann die Bühne betritt und mit einer Kalaschnikow in die Luft schießt, sollen viele der über 800 Theaterbesucher zunächst nicht geglaubt haben, dass dieser Part nicht zum Stück gehört und sie in Wirklichkeit Opfer einer Geiselnahme wurden. Wo liegt die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit? Insbesondere im Theater?

Filmemacher Yorgos Zois, der in diesem Jahr am Lido mit „Interruption“ sein Spielfilmdebüt feiert, nahm dieses tragische Ereignis zum Anlass, um über das „passive Zuschauerverhalten von heute„, wie er sagt, zu reflektieren. Basis seiner Erzählung ist die Orestie, Aischylos´ griechische Tragödie um Macht, Rache und Katharsis und das Verständnis von Recht und Rechtsprechung.
In einem Glaskasten auf einer dunklen Bühne, die man als solche noch nicht erkennt, beginnt das Stück. Die Kamera umkreist die Theaterschauspieler in vielen Close-ups und erzählt vom Tod Agamemnons. Oreste soll eine Entscheidung treffen. Als die Kamera schließlich in einer Totalen den Blick auf einen Theatersaal freigibt, sieht der Zuschauer sowohl im Theater- wie im Kinosaal, dass jemand aus dem Publikum auf die Bühne steigt. Aus den Seitenaufgängen treten ebenfalls Männer und Frauen auf die Bühne, bewaffnete und in Grau gekleidet. Ein Mann (Alexandros Vardaxoglou) – kantiges Gesicht, schwarzes Haar, glatter Seitenscheitel – in einer dunklen, uniformähnlichen Jacke mit stehendem Kragenansatz, stellt Ankömmlinge als den Chor vor, der das Publikum nun durch den Abend begleit. Er fordert die Zuschauer auf, wenn sie Teil haben wollten, mit auf die Bühne zu kommen. Sieben oder acht Personen, darunter ein Kind, folgen dem Aufruf. Niemand ahnt in den Sitzreihen, dass es sich um eine echte Störung und Unterbrechung des Stücks handelt. Einzig im Hintergrund, im schlecht beleuchteten Glaskasten auf der Bühne sieht es aus als würde sich leichte Unruhe breitmachen. Und wie zur doppelten Absicherung fragt der offensichtliche Anführer der grauen Gruppe eine der neuen Teilnehmerinnen, ob das hier real oder Fiktion sei. Unsicher über die vermeintlich philosophische Frage antwortet sie dennoch kurz: „Real“. Es folgen bizarre und verstörende 110 Minuten voller Anspannung, in denen Bedrohliches und Schreckliches auf der Bühne passiert. Selbst nach einem Mord auf der Bühne und Zwischenrufen der Schauspieler, die ihrerseits beginnen, das Spiel zu durchbrechen, bleibt das Publikum seelenruhig auf den Stühlen sitzen, gibt Zwischenapplaus und auch von einer brutalen Verfolgung im Foyer lässt sich ein Toilettengänger nicht irritieren.
Die Kunst als Spiegel ihrer Gegenwart oder als Instrument, um „das wahre Wesen der Dinge, des Lebens, des Daseins, zu erfassen„, wie Schopenhauer es beschrieb. Durch ihre Kraft, die Dinge in einen anderen Zusammenhang zu stellen, sie herauszuheben aus der alltäglichen Wahrnehmung, werden sie plötzlich sichtbar und erfahrbar. Debütregisseur Yorgos Zois nutzt genau diese Fähigkeit der Künste, um eine Gesellschaft und ihr Verhalten, ihr Agieren und Reagieren zu sezieren. In einer außergewöhnlichen Erzählung und beeindruckenden Bildern öffnet er den Blick für komplexe politische und soziale Kommentare. Ein bemerkenswertes Debüt, das neben Piero Messinas „L`Attesa“ auch ins Rennen um das beste Erstlingswerk geht. Zwei sehr sehenswerte und starke Kandidaten, die es hoffentlich auch in die deutschen Kinosäle schaffen.

Es sind in diesem Jahr erstaunlich viele Filme, die sich durch ihre formale Sprache hervortun und oft eher Video-Art als einem traditionellen Sehversprechen mit konservativer Erzählstruktur nachkommen. Und so finden sich im Wettbewerb auch Laurie Andersons „Heart of a Dog“ und Alexander Sukurovs „Francofonia„. Zwei Filme mit Off-Erzählstimme und einer eher experimentellen Erzählform im Zusammenschnitt von Archivfilmen und -fotos, nachgestellten theatralen Begegnungen und poetischen Zitaten. Doch Sukurovs Beitrag mäandert leider ungeschickt und lehrmeisterlich und mitunter unfreiwillig komisch auf unterschiedlichen Erzählebenen über die zivilisationsgeschichtliche Bedeutung von Kunstwerken herum und beschreibt am Beispiel des Louvre die Notwendigkeit dieser zu jeder Zeit unbedingt zu schützenden Werke. In Anbetracht der Aktualität dieser notwendigen Debatte und der noch einmal von Sukurow selbst in der Pressekonferenz leidenschaftlich hervorgehobenen Funktion von Kunst ist das nicht nur tragisch, sondern fast schon fahrlässig. Musikerin und Multimedia-Art-Künstlerin Laurie Anderson dagegen schafft es deutlich leichter ihren Film so zusammenzusetzen, dass der Zuschauer ein Gespür entwickelt, für die im Film in einer Art tagebuchähnlichen Form atmosphärisch verdichteten Themen Tod, Überwachung und Leben.

Und schließlich ist es ein Film in der Sektion „Giornate degli Autori“, der ganz wunderbar das Kino mit der Videoart vereint. Celia Rowlson-Halls „Ma„, der in Kooperation mit dem Telluride Filmfestival in Venedig gezeigt wird. Ein sinnlich beeindruckender Film, der komplett auf Sprache verzichtet und nur auf Bild und Ton setzt. Film als experimenteller Erfahrungsraum. Die Filmemacherin mit Tanzausbildung ist selbst eine der Figuren im Film. Immer wieder verlieren sich auch bei ihr die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Mauern kippen in ein dunkles Nicht, Orte beamen sich ineinander. Männer in merkwürdiger Maskierung tauchen immer wieder unverhofft auf, agieren für den Zuschauer verstörend in ihrer Männlichkeit. Es ist als träfe David Lynch auf Edward Hopper und Julian Rosefeldt. Eine fantastische Vereinigung der Künste!
Celia Rowlson-Halls zählt definitiv zu den Entdeckungen dieses Jahrgangs.

SuT

1 2 3 4 5 6 7 8 9