Interview mit Regisseurin Deniz Gamze Ergüven zu „Mustang“

Ergüven: „Die politische Rhetorik hat sich seit 2013 deutlich radikalisiert“



Wie schwer haben es Mädchen in der türkischen Gesellschaft?
Mit dem Film wollte ich dieses permanente Sexualisieren von Allem anprangern. Zum Beispiel die Szene, in der die Mädchen auf den Schultern der Jungs sitzen: Da wird nicht nur sexualisiert, sondern das auch noch sehr früh, in diesem jungen Alter. Es ist irgendwie immer da. Es gibt ein Beispiel, das ich da immer wieder gerne anbringe: Ein Schuldirektor hat verfügt, das Jungen und Mädchen nicht auf derselben Treppe gehen dürfen, weil was auch immer passiert, wenn du um 8 Uhr morgens in deinen Mathe-Unterricht gehst. Da ginge es um Sex – und damit sexualisieren sie alles. Das verengt die Perspektive sehr und führt dazu, wenn man das mal zu Ende denkt, dass Mädchen nichts mehr machen können. Sie dürfen das Haus nicht verlassen und müssen sich ständig versteckt halten.

Welche Rolle spielt bei dieser Beobachtung, dass Sie nicht mehr in der Türkei leben?
Das hat damit nichts zu tun. Ich stand immer zwischen den Ländern. Der Effekt ist eher der, dass ich nicht immer in dem Alltag drin stecke, aber wenn ich zurückkehre, fallen mir Dinge dafür umso stärker auf – und dieses Sexualisieren stört mich.

Es hilft in jedem Fall, aus einem System heraus zu treten, um Dinge zu beurteilen…
Aber das funktioniert in beide Richtungen. Schaue ich von der Türkei aus auf Europa und sehe in der Türkei zwei Millionen Flüchtlinge und gleichzeitig die Reaktion von Ländern, die sich schwer tun, 20.000 aufzunehmen, ist das für mich verrückt! Man kann doch nicht sagen, das existiert nicht oder das geht mich nichts an. Der Vorteil, zwei Kulturen in sich zu tragen, ist der, dass der eigene Referenzrahmen weiter ist.

Wie nehmen Sie die Türkei, die sich in den letzten zwei, drei Jahren sehr verändert, wahr?
Seit die AKP, also eine religiöse Partei, an der Macht ist, seit 2011, hat sich die politische Rhetorik verändert und seit 2013 deutlich radikalisiert. Von Anfang an war es unangenehm, dass in einem Land mit einer solch weltlichen Tradition religiöse Gruppen an Macht gewinnen. Anfangs gaben sie sich als Anpacker, die sich um alles kümmern, aber langsam nehmen sie die Maske ab. Die Türkei war immer besonders, da sie kulturell immer sehr nah an Europa und am Orient war. Das spürt man sehr stark. Gleichzeitig ist die Türkei ist ein sehr junges Land, sehr dynamisch. Jede Woche gibt es dort fünf verschiedene Geschichten, die mit der des toten Jungen am Strand mithalten können – aber international erreichen die keine Aufmerksamkeit. Das sind fünf Alpträume pro Woche. Was da über die verschiedenen Medien, auch Social Media, an die Oberfläche kommt, ist unglaublich intensiv.

Lässt sich das vergleichen, um es besser einzuordnen?
Aus L.A. kamen Ende 2015 die beiden unglaublichen rassistischen Vorfälle, diese Rodney King-Geschichte, mit dem Schwarzen, der verprügelt wurde und das junge Mädchen, das in einem Supermarkt getötet wurde. Auf dem Niveau haben wir jede Woche fünf. Dadurch verändert nicht ein großes Ding sofort die Agenda.

Die Fragen stellte Denis Demmerle.

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