Interview mit Jean-Pierre und Luc Dardenne zu „Das unbekannte Mädchen“

Wir wollten uns nicht der Codes des Krimi-Genres bedienen


„Das unbekannte Mädchen“ der Brüder Dardennes lässt sich als Statement für mehr Zivilcourage deuten. Foto: Christine Plenus

„Das unbekannte Mädchen“ der Brüder Dardennes lässt sich als Statement für mehr Zivilcourage deuten. Foto: Christine Plenus

Nebenbei präsentieren Sie in diesem Film auch eine Kritik am bestehenden Gesundheitssystem: Wie sind Sie bei Ihren Recherchen zu dem Thema vorgegangen?
JPD: Es ist ja das Schöne, dass der fertige Film dem Zuschaue immer ein bisschen mehr gehört als uns. Wenn Sie darin eine Kritik am bestehenden Gesundheitssystem sehen, so war das jedenfalls nicht unsere primäre Absicht.
Die Gewalt der Jugendlichen in der Praxis, das ist ja nichts anderes, als eine Widerspiegelung der Gewalt unserer Gesellschaft.
Wir hatten darüber in einem Buch eines französischen Arztes gelesen, dessen Praxis in einem schwierigen Viertel war und der jeden Tag überfallen wurde. Das ist übrigens auch der Grund, warum er vor seiner Praxis eine Überwachungskamera installiert hatte, um zu sehen, wer kommt.
Gewalt und Zynismus, sie bestimmen ein bisschen den Zustand unserer Welt, der heutigen Gesellschaft.
Wenn man in unserem Film also eine Kritik am bestehenden Gesundheitssystem liest – um so besser!

In ihren Filmen konfrontieren Sie ihre Protagonisten ja immer mit Situationen die das Beste und das Schlechteste im Menschen hervor rufen. Oft entstehen zwischenmenschliche Verbindungen erst aus einer (monetären oder moralischen) Schuld heraus und unterliegen so kapitalistischen Gesetzen, die sie ja offen thematisieren: Worin sehen sie als Filmemacher ihre gesellschaftliche Bestimmung? Was interessiert sie so sehr daran, immer wieder die Gewissens- und Schuldfrage zu stellen?
LD: Weil es uns erscheint, als sei das die grundlegende menschliche Verbindung, der Fakt, Anderen gegenüber in der Schuld zu stehen. Nicht nur in einem rein finanziellen Sinn, sondern allein durch die Tatsache, dass man Anderen gegenüber nicht die Freiheit hat, deren Existenz zu vergessen, deren Leiden zu ignorieren. Das ist die Schuld.
Sie existiert, weil die Menschheit zusammenhält, weil man sich in Verbindung zu anderen Menschen fühlt. Für mich ist das nicht kapitalistisch, sich an deren gegenüber in der Schuld zu fühlen.
Nehmen Sie beispielsweise Menschen, die sich weigern Steuern zu zahlen – und sprechen wir hier nicht von den großen bösen Kapitalisten, sondern sprechen wir hier von uns im Alltag -, dieses Prinzip abzulehnen, das leuchtet mir nicht ein. Die Steuer, das ist eine Möglichkeit, die Reichtümer zu verteilen und eine gewisse Gleichheit zwischen den Menschen herzustellen, obwohl die Einkünfte ungleich sind.
Der Steuer entgehen zu wollen, das heißt sich den anderen gegenüber nicht schuldig zu fühlen.
Menschen, die ablehnen, dass der Staat die Güter umverteilt, haben keinen Sinn für den Staat. Aber heutzutage entwickelt sich eine zynische Mentalität, manche trauen sich sogar ganz offen zu sagen: „Der Staat bestiehlt mich!“ – Aber nein, der Staat bestiehlt dich nicht.
Es ist das gleiche Prinzip wie die gesetzliche Krankenversicherung, das ist ein Solidaritätskonto. Ich bezahle monatlich einen bestimmten Betrag, auch wenn ich nicht krank bin. Aber eines Tages bin ich vielleicht krank und dann bin ich darauf angewiesen.

Geht es Ihnen also ein wenig darum an diesen Solidaritätsgedanken zu appellieren?
JPD: Ja, an eine fundamentale, soziale, gesellschaftlich organisierte Solidarität, als Zeichen der Emanzipation von hierarchischer und sklavischer Herrschaft des Einen über den Anderen. Da sind wir doch längst darüber hinweg!
Aber jetzt gerade hat man den Eindruck, dass innerhalb der Gesellschaft ganz langsam dieser Wunsch erwächst, den Staat zu schwächen und seine Gewalt einzuschränken und zu einem wenn man so will „wilderen“ Zustand zurückzukehren. Ganz nach dem Motto: „Ich verdiene mehr als du und daher kannst du mich mal.“

Es ist nicht das erste Mal, dass Sie – als zwei männliche Filmemacher – Ihre Filme aus dem Blickwinkel einer weiblichen Protagonistin erzählen. Was reizt Sie an diesem Perspektivenwechsel? Und wo liegen die Schwierigkeiten?
JPD: Dabei gibt es keine Schwierigkeiten, im Gegenteil: Es ist uns eine Freude!
Wir haben uns einfach nie vorstellen können, dass ein Mann das so machen könnte, wie sie [Adèle Haenel in „Das unbekannte Mädchen“].
Das, was sie tut, ist ja fast schon so etwas wie ein heroischer Akt. Indem wir die Rolle mit einer Frau besetzt haben, gibt es jedoch nicht diesen Willen zu Heroisieren oder diese Absicht zu Dominieren.
So jedenfalls versuche ich mir das jetzt zu erklären, aber eigentlich haben wir bei dieser Figur nie an einen Mann gedacht.
Natürlich hätten wir die Rolle auch männlich besetzen können, wobei dann manche Szenen so nicht machbar gewesen wären. Sie wird ja auch Opfer männlicher Gewalt. Aber vielleicht haben wir uns beim Schreiben dieser Szenen, gerade auch davon leiten lassen, dass sie eine Frau ist….

Gehen Sie davon aus, dass wenn man die Geschichte aus einem männlichen Blickwinkel heraus erzählt, man dann gezwungenermaßen einen Effekt des Heroisiertwerdens hervor ruft?
JPD: Ich weiß nicht so genau. Es ist sicherlich nicht dasselbe.
Aber warum haben wir sie genommen? Weil das was sie tut ansonsten zu heroisch gewirkt hätte? Ich weiß es wirklich nicht…
LD: Naja und es ist ja eine Geschichte unter Frauen. Das unbekannte Mädchen ist ja auch eine Frau.
JPD: In „Der Junge mit dem Fahrrad“ war es anders, da kann man sicherlich verstehen, warum wir für die Rolle der Samantha [gespielt von Cécile de France] eine Frau genommen haben. – Aber hier haben wir einfach nie einen Mann gesehen.
LD: Nein, niemals.
JPD: Und dann gibt es natürlich auch diese Freude der Regisseure, die wir ja sind, mit Schauspielerinnen zu arbeiten. Es ist einfach nicht dasselbe, wie mit Schauspielern. Das ist natürlich auch gut, aber ganz anders. Und diese Freude hängt ohne Zweifel damit zusammen, dass wir selbst keine Frauen sind.

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