BFF on the road: DOK Leipzig 2017

60. DOK: Georgische Zerrissenheit und animierter Ausnahmezustand


In der "Neuen Deutschen Animation" überzeugte "Sog". Copyright: Jonatan Schwenk

In der „Neuen Deutschen Animation“ überzeugte „Sog“. Copyright: Jonatan Schwenk

Auch im Animationsfilm ist Normalität fast immer ein zu zerlegendes Konstrukt. Das beginnt und endet natürlich mit der Form, die entweder existierende Körper aufgreift, übertreibt und damit hervorhebt,oder gleich ganz neue erfindet. Die Normalitätssprenger waren 2017 vor allem in der „Neuen Deutschen Animation“ unterwegs, die jedes Jahr aktuelle deutsche Stimmen aus der Animationsszene vorstellt.
Neben zahlreichen digitalen 2D-Produktionen sowie handgezeichneten digitalen 2D-Animationen – darunter Benedikt Hummels wunderbar sinnliche Hommage an die gemütliche Zärtlichkeit „Good Night, Everybuds“ (Filmakademie Baden-Württemberg), der herrlich reduzierte und sprichwörtlich auf den Punkt gebrachte, mit der Goldenen Taube für den besten deutschen Beitrag bedachte „Megatrick“ von Anne Isensee und Patrick Buhrs experimentelle, aufs 3D-Blatt geworfene Zugfahrt „The Train, the Forest“ in 3D – blieben vor allem zwei Filme in Erinnerung, die mit Puppentrick arbeiteten.
Lydia Günther setzte den alltäglichen Liebesmühen und -verwirrungen mit „Das Bett“ ein kleines Denkmal– ihre Protagonisten sind der Stumme, die Taube, der Blinde und die Humpelnde, vier ästhetisch völlig unansehnliche Gestalten, die sich lieben und entlieben und dabei ständig verwechseln. In einer Mischung aus Stop-Motion und Silhouetten-Trick ruft Günther Isabela Plucińska in Erinnerung, fügt dieser Reminiszenz aber eine ganz eigene Tonalität hinzu. In Jonatan Schwenks „Der Sog“ (3D Digital, Puppen, Live-Action und 2D Digital) ist hingegen die Apokalypse eingebrochen: Nach einer Flut hängen Fische in den Bäumen und brüllen – ihre permanenten Schreie treiben die dort lebenden Höhlengeschöpfe erst zur Verzweiflung und dann zur Weißglut. Die Konsequenz, mit der Schwenk gleichzeitig eine zeitlose Parabel und sehr zeitgemäße Beobachtung über kollektive Abgrenzungsmechanismen entwirft, beeindruckt umso mehr, als dass sich die Fisch-Puppen und 3D-Gestalten auch animationstechnisch als Fremde begegnen.

Die von Franziska Bruckner kuratierte, vierteilige Reihe „Nach der Angst“ lud dazu ein, die Begegnung mit dem Fremden oder Bekannten auf der Ebene der Angst fortzuführen. Die Reihe, die die grassierende Unsicherheit angesichts der medial behaupteten zunehmenden politischen Zuspitzung und Verrohung als gegeben annimmt, setzte vier Schwerpunkte: Die lustvolle, komische Darstellung der Angst (F wie Fear for Fun), Dystopien und Utopien nach der Angst (E wie Eery Evolutions), der quasi-therapeutische Umgang mit der Angst (A wie Adapting to Angst) und die Angst als unmittelbares Gefühl (R wie Raw Revelations). Dabei schöpfte Bruckner nicht nur aus vielen Bereichen der Animation – vom klassischen Zeichentrick über Puppen-, Sand-, digitaler 2D- und 3D-Animationen bis hin zu Glitches und Mixed Media Formaten, sondern spannte auch den historischen Bogen von 1928 (Hans Richter mit „Der Vormittagsspuk„) bis 2017 (Anna Vasof mit „Time Travel„).

Szene aus "Birth". (c) Signe Baumane

Szene aus „Birth“. (c) Signe Baumane

Besonders interessant waren hier die ausgesuchten feministischen Perspektiven, die mit der Angst direkt und gleichzeitig sehr persönlich ins Gericht gingen. Darunter befanden sich Signe Baumane mit „Birth“ (2009, USA), der eine junge, schwangere Frau unterhaltsam-süffisant mit allen möglichen physischen und psychischen Komplikationen einer Geburt konfrontiert; der internationale Festivalhit „Pussy“ (Polen, 2016) von Renata Gasiorowska, der spielerisch das Thema Masturbation verhandelt; Joanna Priestley mit „Voices“ (USA, 1984), der als Selbstbeschwörung böse Geister und Panikattacken abwehrt oder Chloé Kaufmanns und Nolwenns Dastes „Women’s Work“ (Frankreich, 2015), einer Art narrativiertem Kurzessay, der das Schicksal einer französischen Journalistin in Syrien genauer betrachtet.
Vielleicht liegt es daran, dass es viel Vorstellungskraft benötigt, sich die Zeit nach der immer weiter um sich greifenden Angst wirklich vorzustellen, aber im weiteren Programm hallten vor allem die angsteinflößenden und verstörenden Filme („Raw Revelations„) besonders stark nach, eben weil sie konkret mit Urängsten agierten. Ob das Spiel mit der unterbewussten (Lust an der) Angst, das der Großmeister Jan Švankmajer mit „Down to the Cellar“ (CSSR, 1982) so famos inszeniert, die Angst vor dem Wahnsinn, der als animierte Zeichnung die Wände hochkriecht und schließlich fast unter sich begräbt („Lucia, Luis y el lobo“ von Niels Atallah, Joaquin Cociña e Cristóbal León; Chile, 2007) oder der höchst effektive „Zepo“ von César Díaz Meléndez (Spanien, 2014), der in einer reduzierten Sandanimation eine echte Horrorstory mit einem kleinen unschuldigen Mädchen erzählt, die mitnichten kathartisch wirkt.

Im Vergleich zu dieser thematisch so konzentrierten Filmreihe wirkte der Internationale Wettbewerb manchmal recht beliebig, obgleich er sich durch innovative und vielseitige Beiträge auszeichnete, die ihre Techniken höchst effektiv einsetzten (Samira Badrans „Memory of the Land„, Thomas Corriveaus „Folly„). Aber Filme wie Frank Terniers „Riot„, der visuell sehr an ARTE Tracks erinnerte, oder Stacey Steers „Edge of Alchemy“ wirkten, als seien sie mehr mit der Zurschaustellung ihrer eigenen Mittel als einer inhaltlichen Auseinandersetzung beschäftigt (die Jury prämierte Ehsan Gharibs Geisterbeschwörung „Deyzangeroo„, das Publikum entschied sich hingegen für den verdaulichsten und zugleich bemüht familienfreundlichen „Grandpa Walrus“ von Lucrèce Andreae). Man hätte sich hier fast noch ein oder zwei weitere kuratierte Animationsfilmprogramme à la „Nach der Angst“ gewünscht, bei denen Form und Inhalt viel mehr in Dialog miteinander und mit den anderen Filmen standen – schließlich ist der Dialog ein wichtiges Haltungsprinzip der DOK Leipzig überhaupt.

Marie Ketzscher

Die 60. Jubiläumsausgabe der DOK Leipzig fand von 30. Oktober bis 5. November 2017 statt.

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