BFF on the Road: Locarno Festival 2018

Locarno 2018: "Den Mensch in den Mittelpunkt rücken" (Carlo Chatrian)


Von der offiziellen Jury ignoriert, gewann „Sibel“ von Çağla Zencirci und Guillaume Giovanetti sowohl den Preis der ökumenischen Jury als auch den FIPRESCI-Preis. Foto: Locarno Festival 2018


Den schlechten Eindruck der beiden Machwerke gleichen zwei sehr authentische, sensible Filme aus: „Alice T.“ von Radu Muntean aus Rumänien hat als Protagonistin die titelgebende Alice. Das rothaarige, freche und anspruchsvolle Mädchen wird schwanger. Dies führt sie wieder näher an ihre Mutter heran, die Aufmerksamkeit, die sie nun genießt, gefällt ihr. An ihrem Verhalten ändert sie aber nichts, sie bleibt mit allen auf Konfrontationskurs. Die Stärke des Films sind sein zügiger Erzählrhythmus, der komplette Verzicht auf einen moralisierenden Tonfall und nicht zuletzt eine strahlende, kraftvolle schauspielerische Darbietung von Andra Guti als Alice. Verdient ging der Preis für die beste weibliche Hauptrolle an sie.

Der andere Film, Regie von Çağla Zencirci und Guillaume Giovanetti, stellt ebenfalls eine junge Frau, leicht älter als Alice, in den Vordergrund. „Sibel“ heißen Film und Heldin. In einem türkischen Dorf lebt Sibel mit ihrem Vater und der jüngeren Schwester. Sie ist stumm, kann aber durch eine eigene Sprache, die aus Pfeifftönen besteht, trotzdem durch Laute kommunizieren. Für die Gemeinde gilt dies als Behinderung oder gar als Fluch, doch Sibel ermöglicht es, sich in einer eigenen Welt zu bewegen, in der sie für sich ein Stück Freiheit findet. Der Film erzählt von der engen Beziehung, die Sibel zu ihrem Vater hat. Dieser ist hin- und hergerissen zwischen den Traditionen, die verlangen, dass er seiner Tochter klare Grenzen setzt. Sibel trägt aber kein Kopftuch, sie kann mit einem Gewehr umgehen und bewegt sich alleine und sicher im Wald. Die selbstständige Persönlichkeit, die er herangezogen hat, wächst ihm über den Kopf, als im Dorf Missbilligungen laut werden. Während die offizielle Jury den Film im wesentlichen ignoriert hat, gewann er sowohl den Preis der ökumenischen Jury als auch den FIPRESCI-Preis.

Im Wettbewerb waren zwar nur drei weibliche Filmemacherinnen vertreten, doch insgesamt acht von 15 Beiträgen hatten weibliche Hauptfiguren. Auch über den Wettbewerb hinaus konnte eine starke weibliche Präsenz vor und hinter der Kamera festgestellt werden. Zwei Dokumentationen verdienen es, hervorgehoben zu werden. Die eine wird noch lange von sich reden machen: „#FemalePleasure“ von Barbara Miller. Aufgeführt im Rahmen der Semaine de la critique, die in Locarno in Zusammenarbeit mit Cannes durchgeführt wird und sich auf Dokumentationen konzentriert, gewann den Hauptpreis der Sektion. Fünf Frauen aus allen Kontinenten der Welt werden zu ihrer Lebensgeschichte befragt. Jede von ihnen hat, durch religiöse oder kulturelle Traditionen und Bräuche motiviert, sexuelle Gewalt oder Unterdrückung erfahren.

Es geht um eine junge Deutsche, die während ihres Noviziats in einem katholischen Kloster von einem Pater vergewaltigt wurde, eine Somalierin, die gegen die Beschneidung von Mädchen kämpft sowie eine Inderin, die versucht, dem in Indien verbreiteten Bild der Frau als Ware und der Praxis der arrangierten Ehe entgegenzuhalten. In Japan lebt eine bildende Künstlerin, die als Ausgangspunkt ihrer Arbeiten Abgüsse ihrer Vagina nimmt. Schon das Aussprechen des Worts für die weiblichen Geschlechtsteile bedeutet es in Japan, sich öffentlichen Ärgernisses schuldig zu machen. (Dass aber am nationalen Fruchtbarkeitstag alle, Kinder, Frauen und Männer mit Penissen in allen Formen und Formaten als Skulpturen, Spielzeug oder Eis am Stiel herumgehen, gilt offenbar als die natürlichste Sache der Welt.) Die letzte der porträtierten Frauen ist Deborah Feldman, die ihre jüdisch-orthodoxe Gemeinde in New York verlassen hat und mittlerweile in Berlin lebt. In der orthodoxen Lebensart herrscht die Auffassung, dass Frauen minderwertig und „unrein“ sind. Sie werden für die Fortpflanzung benötigt, doch ihre sexuellen Bedürfnisse bleiben außen vor. Es entspricht der Sitte, dass der Geschlechtsakt im Dunkeln und leise geschieht.

Die jüdisch-orthodoxe Einstellung zur Sexualität thematisiert auch eine andere Frau, Yolande Zauberman, in ihrer Dokumentation „M„, die als Gegenstück zu „#FemalePleasure“ angesehen werden kann. Hier deckt sie auf, wie verbreitet es offenbar ist, dass in der Gemeinde männliche Kinder missbraucht werden. Religiöse Zusammenkünfte bieten Rabbis, aber auch anderen, die Gelegenheit, sich an Jungen zu vergehen. Selten kommt es zu einer Anzeige oder zu einem Strafvollzug. Dieser Film, der durch das nächtliche Tel Aviv führt, bleibt dank seiner Intensität unvergessen.

Mit „Les dames“ haben Stéphanie Chuat und Véronique Reymond ebenfalls einen sehr eindrücklichen Dokumentarfilm geschaffen, der aber durch seine Einfachheit und Unaufdringlichkeit Gefahr läuft, am Ende wenig Beachtung zu finden. Er kann nicht mit spektakulären Thesen und Aussagen dienen, schöpft aber seine Kraft genau aus seiner einprägsamen Authentizität. Die Filmemacherinnen begleiten fünf Frauen zwischen 65 und 75 Jahren in ihrem Alltag. Sie sind Witwen oder alleinstehend und auf der Suche nach einem neuen Lebensmodell. Auf dem Beziehungsmarkt haben es alle schwer.

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