Woche der Kritik 2020: Interview mit Frédéric Jaeger

Jaeger: "Es ist auch nicht immer einfach, Publikum zu sein"



Die Filmkritik wird in vielen „alten“ Medien immer weiter verdrängt, findet dafür aber ihren Platz in den „neuen“ Medien. Welche Rolle spielt die Kritik heute?
Dazu gibt es ganze Kongresse, Buchbände und es lassen sich viele Zeitungsseiten und noch längere Blogposts zu füllen. Wie vermutlich fast immer, sind Krisenmomente besonders spannend und belebend. Während sich die Medien in längeren Transformationsprozessen verändern, gibt es an sehr vielen Orten eine sehr lebendige Filmkritik. Die Rolle verändert sich natürlich und Kritikerpäpste gehören der Vergangenheit an. Aber das ist ja kein schlechtes Zeichen. Gerade mit einem heutigen Bewusstsein für den Mangel an Diversität, den es immer noch gibt, kann man sich solche Zeiten unmöglich zurückwünschen.

Welche Vision habt ihr/ hast du für die Kritik?
Dass sie sich vom Druck befreit, Bewertungsbarometer zu sein und die Lust zelebriert, trotzdem mit ihren Lesern, Zuhörern und Zuschauenden mal direkter, mal indirekter zu kommunizieren. Es ist nicht einfach, ein aktives Verhältnis zu seinem Publikum zu pflegen. Aber es ist auch nicht immer einfach, Publikum zu sein. Empathie spielt in meinem persönlichen Verhältnis zur Kritik eine sehr große Rolle, vor allem Empathie mit mir selbst als filmschauendem Subjekt. Mich interessiert es, meine eigenen Sollbruchstellen zu untersuchen beim Schauen von und beim Schreiben über Filme. Tatsächlich schreibe ich auch gar nicht so gern „über“ Filme, viel lieber „mit“ ihnen. Es klingt schnell pathetisch, aber Pathos kann ja auch was Schönes sein, wenn es nicht allzu heilig wird: Die Verletzlichkeit, die eigene Durchlässigkeit zelebrieren, das begreife ich durchaus als unsere Aufgabe als Kritiker*innen.

Die WdK steht vor Ihrer sechsten Ausgabe. Eine sich verkomplizierende Debatten- oder auch Streitkultur wird in vielen gesellschaftlichen Bereichen konstatiert und oft auch kritisiert, lässt sich das auch bei der WdK nachvollziehen?
Was ich festgestellt habe, ist, das eine bestimmte Form antagonistischer Kultur in Verruf geraten ist, weil in der Öffentlichkeit absurde Antagonismen überhand genommen haben. Das ist ein Thema für sich, gerade wenn es darum geht, ob es legitim ist, rechts und links als zwei Pole zu begreifen und die Mitte wäre das Gute. Ist natürlich Quatsch. Intoleranz und Toleranz sind keine Pole, bei denen in der Mitte eine Pseudotoleranz das Ziel wäre, usw. usf. In der Kultur sehe ich allgemein durchaus den Wunsch, weniger Dispute zu haben, aufgrund einer Ermattung ob all dieser tagtäglichen, unseligen Diskussionen. Ich sehe aber nicht, dass das zielführend ist. Im Gegenteil kommt es darauf an, dass wir uns eine gesunde Form des fruchtbaren Streits um die besten Argumente beibehalten. Dass wir uns über Geschmacksurteile in die Haare kriegen und dabei politische Fragen nicht ausklammern. Dass wir herausfinden, warum wir einen Film ablehnen, warum wir ihn feiern, warum wir ihn nicht verstehen. Das verbindet sich auch mit dem, was Girish Shambu als „New Cinephilia“ beschreibt, wozu er ein spannendes Manifest verfasst hat, das er zur Auftaktkonferenz der Woche der Kritik am Mittwoch, 19. Februar im Theaterdiscounter diskutieren wird und am ersten Kino-Abend zum Thema „Auto Agitation“ mit den Filmen „[Bordeaux], ma bile“ und „Ivana, the Terrible„, Filmen, die sich selbst aufregen.

Die Fragen stellte Denis Demmerle.

Die 6. Woche der Kritik findet von 19. bis 27. Februar 2020 in Berlin statt.

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