„Alpen“ von Giorgos Lanthimos


In "Alpen" schlüpfen vier Menschen gegen Bezahlung in die Rolle kürzlich Verstorbener. Foto: Haos Film

In "Alpen" schlüpfen vier Menschen gegen Bezahlung in die Rolle kürzlich Verstorbener. Foto: Haos Film

Verwirrendes Rollenspiel

In einem mädchenhaften Tennisoutfit und die Haare lässig zum Pferdeschwanz zusammengebunden sitzt Monte Rosa, die eigentlich als Krankenschwester arbeitet, bei einem älteren Ehepaar auf dem Sofa. Erst kürzlich haben die beiden ihre 16-jährige tennisbegeisterte Tochter bei einem Autounfall verloren. Die Leerstelle in ihrem Leben soll nun Monte Rosa füllen und die Trauer etwas abmildern, in dem sie in die Rolle des toten Teenagers schlüpft. Gemeinsam spielt sie mit den Eltern Szenen aus der Vergangenheit nach. So empfangen diese noch einmal „ihre Tochter“ nach dem Tennistraining zu Hause oder erwischen sie mit ihrem Freund beim Rummachen.

Ein skurriles Szenario entwirft der griechische Regisseur Giorgos Lanthimos in seinem neuen Film „Alpen“. Unter dem Namen „Die Alpen“ bieten vier bizarre Figuren – eine Krankenschwester, eine Kunstturnerin, ihr Trainer und ein Rettungssanitäter – eine ungewöhnliche Dienstleistung an: Gegen Bezahlung schlüpfen sie in die Rolle kürzlich Verstorbener, um deren Familien beim Trauern zu unterstützen. Es gibt strikte Regeln. Die Trauerhelfer dürfen keinerlei emotionale Bindung mit ihren Klienten eingehen und müssen sich stets an das vorgegebene, mit den Hinterbliebenen akribisch abgesprochene Rollenmuster halten. So kehren sie als Monte Rosa oder Mont Blanc für die „Alpen“ in fremde Wohnungen und Häuser ein, tragen die Kleidung der Toten und spielen – wenn es erwünscht wird – auch sehr intime Erinnerungsmomente nach.

Es ist eine trostlose, karge Welt, die Lanthimos dem Zuschauer in „Alpen“ eröffnet. Seine Charaktere haben weder Namen, noch lassen sie sich charakterisieren oder verorten. Die Dialoge sind hölzern, der Umgang der Figuren miteinander arg unterkühlt. Immer wieder durchziehen den Film komische Situationen: Etwa, wenn die Krankenschwester mit einen Klienten, mit dem sie nur Englisch spricht, an sämtlichen Orten der Stadt Filmszenen nachstellt.

Wie in seinem vorherigen preisgekrönten Film „Dogtooth“ (2009) zeigt Giorgos Lanthimos das Leben als verwirrendes Rollenspiel. Nur sachte offenbaren sich dabei dem Zuschauer die strengen Regeln. In „Dogtooth“ inszenierte Lanthimos eine Familie, die abgeschottet von der Außenwelt und eigentümlichen Verhaltensregeln folgend ihr Dasein fristet. Wie in einem Kokon leben Vater, Mutter und Kinder. Ein Kokon, der im Verlauf des Filmes zunehmend rissig wird, denn Regeln sind da, um gebrochen zu werden. In „Alpen“ ist es die namenlose Krankenschwester, die sich anfänglich sehr genau an die vorgegebenen Handlungsanweisungen hält. Zunächst erscheint es, als agiere sie aus reiner Nächstenliebe. Doch immer mehr findet sie Gefallen daran, nicht nur die Bedürfnisse der Hinterbliebenen zu befriedigen, sondern auch ihre eigene Sehnsucht zu stillen, für einen anderen Menschen Bedeutung zu haben. Von einer Wohnung zur nächsten hastet sie, stülpt sich das Leben der Toten über wie eine zweite Haut und versucht, die Leere in ihrem eigenen Leben mit Inhalt zu füllen. Aus der Trauerarbeit wird zunehmend ein erbittertes Machtspiel, das nur in einer Katastrophe enden kann.

Giorgos Lanthimos Film „Alpen“ eröffnet heute Abend einen Monat vor seiner Deutschlandpremiere (14. Juni) die Reihe Neues griechisches Kino im Kino Arsenal. Lanthimos wird anwesend sein und den Zuschauern Rede und Antwort stehen. Morgen Abend ist dann sein Vorgängerfilm „Dogtooth“ zu sehen.

Eileen Reukauf

Alpen“ Regie: Yorgos Lanthimos, Darsteller: Aggeliki Papoulia, Aris Servetalis, Johnny Vekris, Ariane Labed, Kinostart 14. Juni