„Die Wohnung“ von Arno Goldfinger


Die Entrümpelung einer Wohnung fördert eine ganz eigene deutsch-jüdische Geschichte zu Tage. Foto: Salzgeber & Company Medien

Die Entrümpelung einer Wohnung fördert eine ganz eigene deutsch-jüdische Geschichte zu Tage. Foto: Salzgeber & Company Medien

Gespiegelte Verdrängung

Nach dem Tod von Gerda Tuchler, einer Deutsch-Jüdin, geht die Familie daran, sich um ihren in der Wohnung befindlichen Nachlass zu kümmern. Regisseur Arno Goldfinger ist ihr Enkel und lässt sich und seine Familie dabei filmen. In der Wohnung der Großmutter fühle er sich, als wäre er in Berlin. „Denn alles hier erinnert an diese Stadt.“ Dann geht es äußerst humorvoll zu, denn die Familie muss sich mit all den Dingen und Hinterlassenschaften Gerdas beschäftigen: Fuchsschals, Schmuck aus Schlangenhaut und unzählige Handschuhen und Hüte. Das Meiste fliegt säckeweise in den Hof. Und damit drohen auch zahlreiche Erinnerungen an Gerda verloren zu gehen. So wie ein Stück ihrer Geschichte, dass sich Arno Goldfinger erst nach dem Tod der Großmutter offenbart.

Er wollte eigentlich nur einen lustigen Kurzfilm über die Entrümpelung der „Berliner“ Wohnung seiner Großmutter in Tel Aviv machen – entdeckt dann aber ein unglaubliches Geheimnis: Seine Großmutter pflegte gemeinsam mit ihrem Mann eine kaum erklärbare Freundschaft zu dem deutschen, vom Nationalsozialismus überzeugten Ehepaar von Mildenstein. Leopold von Mildenstein war Journalist für das nationalsozialistische Propaganda-Blatt „Der Angriff“. Gerda Tuchler und ihr Mann emigrierten vor der Machtergreifung der Nazis nach Israel und gehörten zu den Juden, die im Herzen deutsch blieben. Gemeinsam mit den Freunden unternahmen sie mehrere Reisen, eine davon 1933 nach Palästina. Hier erwarb von Mildenstein offenbar sein jüdisches Wissen für seine Artikel, in denen er die Idee entwickelte, die „Judenfrage“ mit der Auswanderung der Juden nach Palästina zu lösen – was seiner politischen Karriere in Deutschland äußerst dienlich war. Die Freundschaft der Tuchlers und von Mildensteins, auch das erfährt der Regisseur im Laufe des Films, bestand sogar noch nach dem Krieg fort.

Wie war es möglich, dass Goldfingers Großvater, selbst Richter, über die mögliche Mitschuld der von Mildensteins an der Judenvernichtung in Nazideutschland hinwegsehen konnte? Es ist spannend anzusehen, wie sich der Regisseur Stück für Stück an die Wahrheit herantastet, indem er die richtigen Fragen stellt. Seine Einzelstellung innerhalb der Familie, in der niemand außer ihm an dieser Wahrheit interessiert ist, macht „Die Wohnung“ zu einer gelungenen Verhaltensstudie, die insbesondere die Verdrängung und die scheinbare Gleichgültigkeit der Menschen offenbart.

Und: Diese Geschichte zeigt ein menschliches Verhalten, das sich unabhängig von den gesellschaftlichen Gegebenheiten abspielt. Er zeigt, dass das Schweigen nicht nur historisch motiviert sein muss, sondern manchmal einfach nur eine Folge von Desinteresse ist. Mit seiner persönlichen Reise in die Vergangenheit gelingt es Arno Goldfinger einerseits, ein unbequemes wie unbekanntes Stück deutsch-jüdischer Geschichte zu erzählen. Andererseits offenbart er, dass die Spuren der Vergangenheit nur dann eine Bedeutung haben, wenn man sie fühlt und nachempfindet, indem man sie hinterfragt und den Antworten mutig und offen begegnet.

Katrin Rösler
Die Wohnung„, Regie: Arnon Goldfinger, Kinostart:14.06.2012