„Just the Wind“ von Bence Fliegauf


"Just the Wind" gewann den großen Preis der Jury der 62. Berlinale

"Just the Wind" gewann den großen Preis der Jury der 62. Berlinale

Schweigsam Ertragen

In einem Waldstück irgendwo in Ungarn außerhalb der Stadt leben Mari, ihr pflegebedürftiger Vater und ihre zwei Kinder in einer kargen Hütte. Wasser gibt es aus der Wasserpumpe vor dem Haus. Zum Frühstück gibt’s nur Brotreste, aufgeweicht in mit löslichem Kaffee und Zucker angereichertem kaltem Wasser. Auch die Nachbarn, der im Wald verstreut lebenden Roma, leben nicht besser. Sauberes Geschirr sucht man vergebens. Tee wird aus leeren Marmeladengläsern getrunken. Nichts liegt diesem Ort ferner, als das im Film oft zitierte Klischee des geselligen „Zigeunerlebens“ mit Geigen und Trompeten. Hier kämpft jeder für sich allein ums nackte Überleben. Mari, von allen nur Birdy genannt, gehört mit ihren Kindern zu den Roma, die seit einiger Zeit gejagt werden. Nachts kommen Unbekannte, um mit Schrotflinten zu töten. Keiner weiß, wer sie sind und wer die nächsten sein werden. Zynisch kommentieren Polizisten die Mordserie und lassen Ungarns vom Rassismus zerfressene Gesellschaft durchblicken.

Angeregt durch ähnliche Ereignisse in Ungarn zwischen 2008 und 2009 geht Regisseur Bence Fliegauf mit „Just the Wind“ auf Spurensuche. Seinen Film will er aber nicht als Dokumentation dieser Ereignisse verstanden sehen. Trotzdem wählt er eine dokumentarische Form des Erzählens, um die größtmögliche Nähe zu seinen Figuren zu erlauben. Wie sieht der Alltag aus, wenn Angst und Gewalt ständige Begleiter sind? Kommentarlos begleitet die Kamera den Überlebenskampf Maris und ihrer Kinder, sitzt ihnen im Nacken auf ihren unzähligen Wegen durch das Dickicht. Nur im Rhythmus ihrer rast- und ruhelosen Schritte durch den Wald werden Angst und Unsicherheit spürbar. Jedes Familienmitglied hat eine eigene Strategie mit der Bedrohung umzugehen. Tochter Anna versucht nicht aufzufallen in der Schule, stellt sich taub, stumm und blind, selbst wenn neben ihr ein Mädchen vergewaltigt wird. Ihre Stimme hat keinen Wert und wozu sich selbst gefährden? Mutter Mari dagegen, eine Frau, die ihre Familie als Straßenreinigerin und Putzfrau versucht durchzubringen, hat das Leben hart gemacht. Ihr forscher Gang und ihr eindringlicher, direkter Blick charakterisieren eine zähe Frau, die stark bleiben muss, um ihre Kinder und ihren Vater zu versorgen und zu beschützen. Bedroht man sie, wehrt sie sich laut, direkt und ungehalten. Ihren Sohn Riò inszeniert Fliegauf zunächst als Streuner. Nur langsam wird klar, dass ihn wichtigeres beschäftigt als Schule. Statt zu verdrängen oder abzuwarten bereitet er sich heimlich auf das Schlimmste vor. Angst ist hier ein lautloser, lauernder Begleiter. Doch die Stille ist bedrohlich und unberechenbar. Jedes Geräusch ist verdächtig. Denn, wenn sie sich einreden, dass nur der Wind durch die Bäume fährt, kommen sie.

Die komplett von Laiendarstellern gespielten Protagonisten und die intime Nähe der Kamera zu ihren Figuren schaffen eine Intensität, die dem Zuschauer unter die Haut geht. Das schweigsame Ertragen ihrer ausgelieferten Existenz, die kaum Hoffnung kennt und sich nur mit den Umständen arrangieren kann, berührt tief und ehrlich.  Ein feinsinniges Porträt der Angst, das völlig zu Recht auf der Berlinale den großen Preis der Jury gewann.

SuT

Just the Wind„, Regie: Benedek Fliegauf, Hauptdarsteller: Katalin Toldi, Gyöngyi Lendvai, Lajos Sárkány, György Toldi, Attila Egyed; Kinostart: 18.07.2013