MELLOW MUD („Es esmu šeit“) von Renārs Vimba


Bröckelnde Schutzmauer

Klarkommen. Bloß nicht anderen vertrauen und Hilfe suchen. Sich nur auf sich selbst verlassen. Ungefähr so denkt die 17-jährige Raya (Elina Vaska), als ihre Großmutter (Ruta Birgere) stirbt und ihr kleiner Bruder Robis (Andzejs Lilientals) und sie plötzlich alleine in der Hütte irgendwo im lettischen Nirgendwo sitzen. Der Vater lange tot, die Mutter auf der Suche nach einem besseren Leben im fernen London. Raya setzt alles daran, dass ihr Leben so normal wie möglich weitergeht. Und dass niemand entdeckt, dass die Großmutter gestorben. Denn das würde für die Geschwister den Umzug ins Waisenhaus bedeuten. Trickreich wimmelt die 17-Jährige unliebsame Besucher wie die Sozialarbeiterin Daina (Zane Jancevska) oder den Postboten ab, sorgt dafür, dass ihr kleiner Bruder isst, sich anzieht und nicht die Schule schwänzt, schlägt Kaminholz und versorgt die Apfelbäume auf dem Grundstück. Fast scheint es ihr zu gelingen, den Alltag aufrecht zu erhalten, ja sogar, ihn zu verbessern. In der Schule legt sich die sonst so verschlossene Raya mächtig ins Zeug, um einen Englisch-Wettbewerb und damit verbunden eine Reise nach London zu gewinnen. Dort hofft sie, ihre Mutter zu finden und vertraut darauf, dass sie ihr helfen wird.

Elina Vaska debütiert als spröde Raya in "Es esmu šeit" und begeistert Publikum und Jugendjury. Foto: Berlinale 2016
Elina Vaska debütiert als spröde Raya in „Es esmu šeit“ und begeistert Publikum und Jugendjury. Foto: Berlinale 2016

Raya gewinnt nicht nur den Wettbewerb, sondern auch das Herz ihres Englischlehrers Oskars (Edgars Samitis). Sie beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit dem jungen Mann, der von Rayas eigenwilliger Art fasziniert ist. Doch statt unbefangen die erste große Liebe zu genießen, muss Raya jetzt noch mehr verbergen. Niemand darf von Oskars und ihr erfahren, schon gar nicht ihr kleiner Bruder Robis. Die Heimlichtuerei entfernt die Geschwister voneinander, Robis gerät aus der Bahn und auch Raya gleitet die mühsam aufrecht erhaltene Normalität zusehends aus der Händen, ihre Schutzmauer bröckelt.

Der tägliche Weg - um jeden Preis versucht die 17-jährige Raya, Normalität zu bewahren. Foto: Berlinale 2016
Der tägliche Weg – um jeden Preis versucht die 17-jährige Raya, Normalität zu bewahren. Foto: Berlinale 2016

Der Film lässt sich Zeit. Mit der Erzählung, mit den Einstellungen, mit allem. Er passt sich Rayas Tempo an, die stets überlegt, abwägt, beobachtet, um dann ganz still und für sich ihre gewichtigen Entscheidungen zu treffen. Sie sagt nur wenig, aber ihre Augen sprechen Bände. „Es esmu šeit“ ist so spröde und still und gleichzeitig so stark und bewegend wie seine Hauptdarstellerin. In Rayas Leben, in ihre Gefühlswelt sinkt man als Zuschauer so nachhaltig ein, wie sie selbst in den schlammigen Morast auf dem Weg zu ihrer Hütte. Und so ist der Film nicht nur eine bewegende Coming-of-Age-Geschichte, die eindrücklich vermittelt, was es bedeutet, früh Verantwortung übernehmen und gewichtige Entscheidungen treffen zu müssen. Er ist auch das grandiose Leinwand-Debüt der lettischen Nachwuchssschauspielerin Elina Vaska, deren entschlossener Blick sich einbrennt.

Auf der 66. Berlinale machte der leise Film auch auf die Jugendjury der Sektion 14Plus mächtig Eindruck. „Uns hat ein Film besonders begeistert, der trotz weniger Dialoge sowie dezenter Mimik kraftvolle und ausdrucksstarke Bilder geschaffen hat“, urteilen die sechs jungen Jurymitglieder und verleihen „Es esmu šeit“ den Gläsernen Bären. „Dank einer überzeugenden Darstellung der Protagonistin konnten wir uns auf eine Reise begeben, bei der die Suche nach persönlicher Selbstbestimmung, Stärke und Verantwortung bewegend dargestellt wurde. Inspirierend steht dieser Filmbeitrag für eine entscheidende Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen auf dem Weg zum Erwachsenwerden.“ Dieser Begründung ist nichts hinzuzufügen. Wir gratulieren dem lettischen Filmteam und hoffen darauf, Elina Vaska bald wieder auf großer Leinwand zu sehen.

Verena Manhart

„Es esmu šeit“, Regie: Renārs Vimba, Darsteller: Elina Vaska, Andzejs Lilientals, Edgars Samitis, Ruta Birgere, Zane Jancevska, Kinostart: 13. Dezember 2018