67. Berlinale: „Kaygı“ („Inflame“) von Ceylan Özgün Özcelik


"Inflame" (OT: "Kaygı") von Ceylan Özgün Özçelik ist der einzige türkische Berlinale Film 2017. Er feierte seine Premiere in der Sektion Panorama. Foto: Algı Eke

„Inflame“ (OT: „Kaygı“) von Ceylan Özgün Özçelik ist der einzige türkische Berlinale Film 2017. Er feierte seine Premiere in der Sektion Panorama. Foto: Algı Eke

Rauchzeichen

Hasret arbeitet als Cutterin in der Dokumentarfilmabteilung eines türkischen Nachrichtensenders, dessen vielsagender Leitspruch ist: „Was Sie sehen ist die Wahrheit. Was sie hören ist die Wahrheit.“ Als sich die politische Stimmung im Land ändert, Kollegen ihre Arbeit verlieren, es schließlich verboten wird, sich während der Arbeitszeit in sozialen Netzwerken aufzuhalten, die Nachrichten mehr und mehr manipuliert werden und Hasret plötzlich und ohne Angaben von Gründen Verantwortungen abgezogen werden, beginnt die Welt um sie herum deutliche Risse zu bekommen.
Auch Zuhause findet sie keine Ruhe: Der von der Straße hereindringende Baulärm ist kaum zu überhören, im ganzen Viertel wird gebaut und auch ihr Wohnhaus soll bald abgerissen werden und irgendeinem neuen Bauprojekt weichen.

Der steigende Druck am Arbeitsplatz und ihre Schlaflosigkeit setzen ihr merklich zu, bis Hasret sich schließlich überhaupt nicht mehr motivieren kann, zur Arbeit zu gehen. Ihre besorgten Freunde schickt sie weg, schließt sich ein, beginnt in ihrer Wohnung Menschen zu sehen, die nicht mehr da sind, Lieder zu hören, wo keine gespielt werden und Rauch zu sehen, wo es nicht brennt. Die Begegnung mit einem Hund in einem Park, weckt Erinnerungen an ein traumatisches Ereignis aus ihrer Kindheit und sie beginnt mehr und mehr daran zu zweifeln, dass ihre Eltern tatsächlich bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind.

Angesichts der für die Presse höchst angespannten Lage in der Türkei, in der seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 unzählige Radio- und Fernsehsender, Zeitungen und Online-Medien geschlossen wurden und zahlreiche Journalisten ihren Job verloren haben oder im Gefängnis sitzen, präsentiert die türkische Filmemacherin Ceylan Özgün Özcelik mit „Kaygi“ („Inflame“) einen düsteren Thriller, der von größerer Aktualität nicht sein könnte.
Der Film ist der einzige Festivalbeitrag aus der Türkei in diesem Jahr und der erste Langspielfilm der Regisseurin, die sich in der Türkei vor allem als Filmkritikerin einen Namen gemacht hat.

Bereits 2013 begann Ceylan Özgün Özcelik mit der Arbeit an dem Drehbuch des Films und doch wirkt seine Thematik brandaktuell: In so genannten postfaktischen Zeiten, in denen objektive Tatsachen zu Alternativen unter vielen werden und öffentlich das offensichtlich Falsche behauptet wird, ist gerade die Auseinandersetzung mit den psychischen Folgen des daraus entstehenden Verlusts an Orientierung von großem Interesse.
Was passiert mit Menschen, die sich nicht mehr erinnern können, deren Erinnerungen, nachträglich gefälscht werden, deren persönliches Erleben mit der um sie herum herrschenden und kollektiv akzeptierten Realität nicht mehr deckungsgleich sind?
Es entsteht so etwas wie eine kognitive Dissonanz, das Äußere steht im Widerspruch zum Inneren. Widersprüchliche Informationen führen zu einer Diskrepanz im Denken und Fühlen, die irgendwie ausgeglichen werden muss.
Wenn zunehmend die Wahrnehmung in Frage gestellt wird, Tatsachen verdreht und Erinnerungen geschönt werden, ist das ein paranoider Zustand.

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