69. Berlinale: „Rekonstruktion Utøya“ von Carl Javér


Carl Javér lässt in „Rekonstruktion Utøya“ vier Überlebende des norwegischen Terrors die Ereignisse nachstellen. Ihm gelingt eine berührende Dokumentation des traumatischen Ereignisses. © Henrik Bohn Ipsen

Aufarbeitung des Unbegreiflichen

Auf schwarzem Grund wird Carl Javérs Dokumentarfilm ein kurzer Abriss der Ereignisse vorangestellt: Am 22. Juli 2011 verübte ein rechtsextremer Terrorist einen Bombenanschlag in Oslos Regierungsviertel. Danach tötete er auf der Insel Utøya, wo gerade das Sommercamp der Arbeiterparteijugend stattfand, innerhalb von 72 Minuten 69 Menschen – vor allem Teenager. 56 seiner Opfer starben durch einen Kopfschuss.

Sechs Jahre später treffen sich vier Überlebende im Norden Norwegens, um sich gemeinsam zu erinnern und Erfahrungen miteinander zu teilen. Zwölf junge norwegische LaiendarstellerInnen wollen ihnen dabei helfen und gleichzeitig besser verstehen, was passiert ist. In einem Filmstudio rekonstruieren sie gemeinsam die Erinnerungen, um das Geschehene zu verarbeiten. Für sich selbst und für uns, die ZuschauerInnen. Carl Javérs Film begleitet sie dabei. Während des gesamten Projektes ist ein Psychologe anwesend.

Soweit die Informationen, die die ZuschauerInnen vorab bekommen. Der Name des Täters wird im Vorspann nicht genannt und auch während des Films nur ein- oder zweimal von den Jugendlichen benutzt – ansonsten sprechen sie von „ihm“.

Nacheinander können die FilmzuschauerInnen nun den vier Jugendlichen Rakel, Mohammed, Jenny und Torje dabei zusehen, wie sie im Filmcamp in Nordnorwegen rekonstruieren, was sie am 22. Juli 2011 erlebt haben. Die vier dürfen sich aussuchen, wer aus der Gruppe der jungen DarstellerInnen sie selbst spielen soll. Sie kleben mit Tape auf dem Boden die Szenerie ab, suchen Requisiten aus und beschreiben den jungen SchauspielerInnen den Ablauf des Geschehens ganz genau. Um die Schüsse des Täters darzustellen, wählt jeder ein anderes Geräusch aus. So werden Rakel, Mohammed, Jenny und Torje selbst zu RegisseurInnen. Sie bestimmen, wann es losgehen soll. Sie dürfen Szenen wiederholen und kritisieren, wenn die Theatergruppe etwas nicht akkurat nachspielt. Auf diese Weise arbeiten die vier alles noch einmal auf, sehen sich selbst von außen, gewinnen wieder „Macht“ über die lebensbedrohliche Situation, in der sie dem Täter hilflos ausgeliefert waren.

Auch aus psychologischer Sicht ist es sehr interessant zu sehen, wie das Theaterspielen hier als Traumatherapie funktioniert. Nicht nur den Jugendlichen selbst, sondern auch den jungen SchauspielerInnen, und später den norwegischen FilmzuschauerInnen, wird durch das Nachspielen der Ereignisse ein Verarbeiten des – auch nationalen – Traumas ermöglicht, das die mehrheitlich offene und liberale norwegische Gesellschaft, die nur aus etwa fünf Millionen Menschen besteht, 2011 erlitt.

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