70. Berlinale: „DAU. Natascha“ von Ilya Khrzhanovskiy & Jekaterina Oertel



Die Co-Regisseur*innen Khrzhanovskiy und Oertel scheinen mit ihren reißerischen Absichten und der Verwischung von Fiktion und Realität gezielt provozieren zu wollen. So wurde von Seiten der Filmemacher beispielsweise angeführt, dass es sich bei dem Folterer Azhippo um einen echten Ex-KGB-Agenten handeln soll. Falls sie damit einen publikträchtigen Skandal auslösen wollen, kommen jedoch mindestens 20 Jahre zu spät. Dass Filmkunst nicht schön sein muss und sich dokumentarischer Formen bedienen kann, wissen wir spätestens seit Lars von Triers und Thomas Vinterbergs „Dogme 95“-Manifest. Dass explizite Sexszenen auch im Kino gezeigt werden können, dürfte nicht erst seit Michael Winterbottoms „9 Songs“ (2004) gemeinhin auf Akzeptanz stoßen.

Es ist eine berechtigte Frage, warum man sich derartige Ereignisse anschauen sollte. Eine große Errungenschaft der Kunstfreiheit ist jedoch, dass die Filmkunst auch das Negative und Abscheuliche darstellen darf. Sie darf auch jenes erforschen, was wehtut und Spuren hinterlässt, solange dies willentlich und einvernehmlich geschieht. Dazu zählen auch körperliche Grenzüberschreitungen, wie der Filmemacher Harun Farocki bereits 1968 mit seinem Agitprop-Film „Nicht löschbares Feuer“ verdeutlichen konnte. Darin drückte der Künstler vor laufender Kamera eine brennende Zigarette auf seiner eigenen Hand aus, um anhand dieser schmerzhaften Illustration das zerstörerische Ausmaß der Verbrennungen durch Napalm im Vietnamkrieg zu thematisieren.

Wenn wir dieser Argumentation folgen, dann ist „DAU. Natascha“ auf schockierende Weise ein effektives Reenactment der Willkür und der menschenverachtenden Methoden des Machtapparats in der UdSSR. Der Film geht dahin, wo es auch im gemütlichen Kinosessel unbequem wird. Ein voyeuristischer Versuch, das Gefühl von Ohnmacht und dem Ausgeliefertsein in einem scheinbar allmächtigen Unrechtsstaat in Form eines perversen Rollenspiels nachvollziehbar machen zu können.

Letztendlich gelingt es „DAU. Natascha“ in seiner hyperrealen Form, den historischen Stalinismus auf schmerzhafte Weise als eine ebenso gestaltete, willkürliche, sozialistische Scheinwelt zu entlarven. Fraglich bleibt, ob es sich dabei um einen gelungenen Film handelt. Es dürfte jedoch unstrittig sein, dass es einer der wenigen eindrücklichen und diskussionswürdigen – und dadurch interessanten – Beiträge im diesjährigen Berlinale-Wettbewerb ist. Auf welche Weise werden sich wohl die weiteren Filme des „DAU“-Projekts dieser Thematik annähern?

Henning Koch

„DAU. Natascha“, Regie: Ilya Khrzhanovskiy, Jekaterina Oertel, Darsteller*innen: Natalia Berezhnaya, Olga Shkabarnya, Vladimir Azhippo, Alexei Blinov, Luc Bigé

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