„Die Wütenden“ (OT: „Les Misérables“) von Ladj Ly


Die Elenden der Gesellschaft

Beim Filmfestival in Cannes wurde der französische Regisseur Ladj Ly von fast zweihundert Einwohnern aus Montfermeil, alles Akteure in seinem Spielfilm, begleitet. In Montfermeil, genauer in der Wohnsiedlung „Les Bosquets“ spielt sein Sozialdrama, das beim Festival mit dem Preis der Jury gekürt und sich als Weckruf versteht, der auf die Missstände in den Banlieues hinweist. Daher ist es entsprechend konsequent, dass die Mehrheit der Darsteller Laien sind, Betroffene, die ihren eigenen Alltag auf die Leinwand bringen und in künstlerischem Sinne dabei sehr überzeugend wirken.

Zu Beginn von „Die Wütenden“ ist Frankreich Fußballweltmeister und in den Straßen von Paris, den Eiffelturm im Blick, feiert das ganze Land. Für einen Moment spielen alle sozialen Unterschiede keine Rolle, alle sind Franzosen. Doch dann müssen die einen zurück in die Wohnmaschinen der Banlieues, in denen weiterhin nur einkommensschwache und fast ausschliesslich Menschen mit Migrationshintergrund leben. Für Ladj Ly, der selber in einem Vorort aufgewachsen ist, sind sie „Les Misérables„, die Elenden der Gesellschaft, wie der Titel des Films im Original lautet.
Die deutsche Titelgebung greift maßgeblich und vollkommen zu unrecht in die Deutung des Stoffes ein. Zwar passt auch „Die Wütenden„, doch entzieht dies dem Film eine eigene, unmittelbare Ebene. Zu erklären ist diese Entscheidung nur durch ein Mangel an Vertrauen gegenüber dem Zuschauer, dem die Referenz zum gleichnamigen Roman, die in Frankreich viel stärker ist, nicht zugetraut oder zugemutet wird.

Mit diesem symbolträchtigen Titel lehnt sich Ly bewusst an Victor Hugos Roman von 1862 an. Dieser gehört zum französischen Kanon, gilt als eines der Schlüsselwerke der realistischen Erzählung und entspricht in seiner Wirkung und Auseinandersetzung mit den Umständen der Unterschicht „Oliver Twist“ von Charles Dickens. Beiden haftet trotzt aller vermeintlichen Realitätsnähe eine romantische Sicht auf die Armut, die im Wesentlichen fatalerweise arme Menschen als genügsam und schließlich glücklich ansieht. Ly widerspricht dem vehement, mit seinem Zitat suggeriert er, dass die soziale Realität für die Unteren sich seit dem 19. Jahrhundert, nicht wesentlich verbessert habe. Der vermeintlich liberale Geist Frankreichs sei ein Selbstbetrug, der Ausbruch aus ärmlichen Verhältnissen nur selten möglich. Es ist diese Stigmatisierung und Vernachlässigung, die Menschen in der französischen Banlieue ausgesetzt sind, die Ly mit seinem Sozialdrama anprangert.

Alles fängt mit einem vermissten Löwenjungen an, das die Roma, die den lokalen Zirkus betreiben, um jeden Preis zurückbekommen wollen. Schnell nimmt die Geschichte an Fahrt auf, als eine Gruppe von Polizisten auf Streife einen Jungen unabsichtlich schwer verletzt und sie dabei von einer Drohne filmt. Um die Aufnahmen zurückzubekommen, müssen die Polizisten Hilfe bei denen suchen, von denen sie etwas weniger gehasst werden als den anderen. Man dürfe keine Schwäche zeigen, meint einer der Polizisten, sonst würde man nicht respektiert. „Die respektieren euch nicht, die fürchten euch“, erwidert Stéphane, dessen anfänglicher Tatendrang bereits nach wenigen Stunden des ersten Arbeitstages in der neuen Brigade restlos aufgebraucht zu sein scheint.

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