ÜBER DIE UNENDLICHKEIT von Roy Andersson



Anderssons Film, der 2019 mit dem Silbernen Löwen in Venedig ausgezeichnet wurde und bis auf eine Szene ausschließlich im Studio gedreht wurde, legt den Finger tief in die Wunde gesellschaftlicher Abgründe. Thematisch äußern die losen Szenen eine Gesellschaftskritik, die den Menschen in einer verdammten Diskrepanz verortet. Gekonnt zeigt Andersson wie die moderne Gesellschaft einerseits systemtreues Funktionieren voraussetzt und andererseits liberale, losgelöste Lebensstile befeuert unter der Leitprämisse, erfüllt und glücklich zu sein. Diesem gesellschaftlichen nicht vereinbaren Imperativ des Funktionierens trotzen Anderssons Figuren noch zu wenig. Seine beste Figur, der verzweifelte Priester (Martin Serner), suhlt sich herrlich im Leid und missachtet von der Gesellschaft vorgeschriebene konforme Rollenzuschreibungen. Immer versucht er, Regeln und steife Ordnungsmuster zu dekonstruieren, fällt aber nur in neue Abgründe hinein. Ein Arzt, den er um Hilfe anbettelt, hat schon Feierabend und setzt den Priester unsanft vor die Tür.

Anderssons originelle Figurenzeichnung besticht besonders, wenn er Leute zeigt, die aus dem System ausbrechen wollen. Nie schaffen sie es, immer versuchen sie es. Selbst im Bus darf man nicht man selbst sein, stellt ein schluchzender Fahrgast fest, der von einem anderen Fahrgast ermahnt wird, warum er nicht zuhause traurig sein kann.
Neben der Gesellschaftskritik thematisiert Andersson groteske Momente zwischenmenschlicher Entfremdung. In strengen tiefenscharfen Bildern stellt er – wie in seiner Trilogie über die Menschheit – aber mit deutlich weniger Humor, menschliche Krisen aus, die von Missverständnissen und fehlender sozialer Intelligenz geprägt sind. Seine Figuren reden aneinander vorbei, nie stimmt das Timing, nie kommt ein Gespräch ins Rollen.

Schwer verdaubare Kost serviert uns Andersson mit seinem neuen Film, dessen Anekdoten von authentischen Figuren leben, in deren Leben Mittelmäßigkeit zu Leid führt. Kafkaesk widmet sich Andersson einer homogen weißen Arbeiterklasse und unteren Mittelschicht und zeigt wie irreführende Mechanismen im Diskurs des Funktionierens gaga machen. Gerne würde man seine Anti-Helden in den Arm nehmen, um sie aus dem System zu entlassen und dorthin zu führen, wo sie dürfen, was sie wollen und wirklich tun. ÜBER DIE UNENDLICHKEIT entwirft eine sterile, geisterhafte Welt, die sich durch Kapitalismus und Klassengesetze strukturiert, dabei jedoch einen Tick zu schwer bleibt. Die Tristesse ist unendlich, Funktionieren auf Knopfdruck hoffentlich nicht.

Wenke Bruchmüller

ÜBER DIE UNENDLICHKEIT, Regie: Roy Andersson, DarstellerInnen: Martin Serner, Tatiana Delaunay, Anders Hellström; Kinostart: 19. März 2020

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