Berlinale aktuell: Interview mit Generations-Sektionsleiterin Maryanne Redpath


Maryanne Redpath, Foto: Berlinale

Maryanne Redpath, Foto: Berlinale

Kinder können vielmehr aufnehmen als man erwartet. Man muss ihnen erlauben eine eigene Stimme zu entwickeln.

Generations-Sektionsleiterin Maryanne Redpath wünscht sich mehr Respekt für die jungen Zuschauer und in Deutschland mehr Mut für das Genre „Kinder- und Jugendfilm“. Wir sprachen mit ihr über die Kultur des Kinder- und Jugendfilms, über den Erfolg ihrer Sektion und darüber was das Genre heute überhaupt leisten kann.

Frau Redpath, Sie erwähnten einmal in einem Interview, dass Sie mit ihrer Großmutter zusammen vier- oder fünfmal „Marry Poppins“ geschaut haben. Was hat diesen Film so besonders gemacht?
Maryanne Redpath: Erste Kinoerlebnisse sind sehr wichtig. In den 60ern waren Musicals allgegenwärtig und als Kind fand ich die Magie von Marry Poppins ganz toll. Sie war meine Filmheldin. Diese Frau, die in die Familie kommt und einem beim Aufräumen hilft, begeisterte mich. Ich bin quasi mit Disney aufgewachsen.

Was macht einen guten Film aus? Was sind für Sie Qualitätsmerkmale für einen guten Film?

Redpath: Es gibt zwei Ebenen: Wenn ich privat ins Kino gehe, habe ich keinen Druck und schaue mir auch trashige Filme an, die ich nicht beurteilen muss. Wenn ich meine Arbeit mache, also Filme auswähle, funktioniert meine Wahrnehmung ganz anders. Ich schaue natürlich auf die normalen Dinge, wie der Film beginnt, welche Bildersprache entwickelt der Filmemacher und welche Beziehung geht der Film mit mir ein. Manchmal erlauben mir Filme, das Denken zu vergessen. Am Ende bleibt ein Gesamterlebnis, nicht nur ein Eindruck. Wenn ich in einen Film nicht hineinkomme, befrage ich mich, warum das so ist. Das kann an der eigenen Befindlichkeit liegen oder vielleicht am Genre. Aber man muss einfach viel Geduld mitbringen und dem Film Zeit geben. Teilweise hat man den Clou des Films schnell, manchmal braucht es auch etwas – oder er ist es einfach nicht. Darüber hinaus ist das filmische Handwerk wichtig: Schnitt, Dialog oder Dramaturgie und der narrative Aufbau.

Ist es in Ihrer Sektion besonders wichtig, dass die ausgesuchten Filme etwas mitteilen? Müssen die Filme immer eine klare Botschaft haben?
Redpath: Jeder Film hat eine Botschaft. Es ist aber nicht unser Auftrag, absolut pädagogisch zu arbeiten. In den 70er Jahren, als diese Sektion gegründet wurde, war das noch anders. Da wurden sogar die Reaktionen der Kinder auf die gezeigten Filme aufgenommen, um zu analysieren, wie Kinder auf Filme reagieren. Aber ich finde, das geht zu weit, denn Kino ist auch Unterhaltung. Unser Programm besteht aus Farben. Das heißt, es gibt viele verschiedene Genres darin. Ich würde behaupten, dass 80 bis 90 Prozent der Filme unseres Programms keine klassischen Kinderfilme sind. Die Filme stehen und sprechen für sich. Es geht oft um die Probleme der Kinder und Jugendlichen, um die Herausforderung des Erwachsenwerdens in verschiedenen Ländern, Strukturen und Situationen. Es gibt sehr häufig aufregende Filmgespräche mit den Filmemachern im Anschluss an den Film. Unsere Berliner Zuschauer sind sehr eloquent und neugierig. Sie schauen genau hin und fragen genau nach. Aber wir unterrichten sie nicht oder geben vor, wie sie die Filme anschauen sollen oder zeigen wie man einen Film macht. Wir zeigen lediglich unsere Filme und erwarten auch nicht, dass sie jeden Film von uns lieben. Man muss ihnen erlauben ihren eigenen Geschmack, ihre eigenen Ideen und vor allem ihre eigene Stimme zu entwickeln. Das ist wie bei Erwachsenen.

Wie bettet sich das Schulprojekt, die Kooperation mit dem Netzwerk Vision Kino, dabei in ihre Arbeit?

Redpath: Dieses Programm ist angedockt, was uns freut. Wir ermöglichen damit Lehrern aus Grund- und Oberschulen vorab Zugang zu den Filmen. In Begleitung mit unseren Medienpädagogen entwickeln diese Lehrer Ideen, wie sie mit den Filmen im Unterricht arbeiten können. Die Schüler kommen dann zu den Filmen und machen dazu ganz tolle Projekte, die sie dann nach der Berlinale vorstellen. Es kommen aber auch viele LehrerInnen und ErzieherInnen außerhalb dieses Schulprojektes, die in den Filmen gute Stoffe finden. Man kann einfach aus jedem Film etwas ziehen.

Was bewegt Ihr Publikum derzeit?
Redpath: Viele Filmemacher haben in der letzten Zeit das Coming-of-Age, das Erwachsenwerden als Inhalt und Stoff für gute Filme, nicht nur für Kinder und Jugendliche, entdeckt. Auf dieser Berlinale kann man das auch in anderen Sektionen finden. Dieser Stoff wird immer in unserer Sektion zu Hause sein und zieht sich wie ein roter Faden durch unser Programm. Was machen Kinder oder Jugendliche durch, um erwachsen zu werden? Wie testen und erleben Jugendliche ihre Grenzen und die Konsequenzen, mit denen sie leben müssen? Oder wie gehen sie auf Risiko und wie hängt das alles von ihrem Umfeld, in dem sie aufwachsen müssen, ab? Wie ist das in anderen Kulturen der Welt, in Deutschland? Wie sieht die Situation für Kinder oder Jugendliche aus, die in einem Kriegsland groß werden müssen? Ein anderes Thema, das im Moment vielleicht eine Art Leitmotiv ist, findet sich in Helden, Superhelden oder Antihelden. Auch Fantasiewelten spielen eine große Rolle. Dahinter steckt die Frage der Realitätsflucht, wie kann ein Kind unter besonders harten Umständen überleben. Andere Filme erzählen von Kindern, die sich unsichtbar fühlen und sehr hart dafür kämpfen müssen, wahrgenommen zu werden.

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