Berlinale Blog: Perspektive Deutsches Kino – Der innere Kampf (9)
„Paul, Paul„, ruft RP Kahl, Regisseur und Schauspieler, an diesem Montagabend aber als Moderator tätig. Zaghaft doch bestimmt greift er den eben gerufenen am Arm. Paul Gratzik befindet sich in einem nur schwer zu stoppenden Redefluss. Nicht unangenehm, charmant – doch droht er die angedachte Redezeit zu sprengen. Paul Gratzik, DDR-Literat und ehemaliger Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi steht an diesem Abend vor ausverkauftem Kinosaal und spricht über sein Leben in der sozialistischen Republik und über den Dokumentarfilm „Vaterlandsverräter“ von Annekatrin Hendel.
Die Regisseurin hat Gratzik über Monate hinweg begleitet und intensive Gespräche mit ihm über die DDR und seine Zeit als Stasispitzel geführt. Gratzik redet offen, sagt oft Scheiße und ist noch heute ganz unverhohlen überzeugter Kommunist. Einer, der polarisiert. Nur wenige Minuten nach Beginn des Publikumsgesprächs brandet ihm berechtigte Wut entgegen. Eine Frau schreit laut: „Ich könnte kotzen, wenn ich Leute wie Sie sehe, die hier ein Podium erhalten. Sie haben Leben zerstört“. Gratziks Reaktion folgt umgehend: „Sie können mir gerne ins Gesicht spucken“. Seine Aussage ist nicht ironisch gemeint und passt zu dem, was das Publikum gerade über knapp 100 Minuten erlebt hat. Denn „Vaterlandsverräter“ ist keine Dokumentation, die sich dem Porträtierten von faktischer Seite nähert. Annekatrin Hendel begleitet Gratzik als Vertraute und greift mit offener Empathie zu Mitteln, die über das distanzierte Porträt hinausgehen.
Paul Gratzik hat fast 20 Jahre seines Lebens für die Staatssicherheit gearbeitet, bis er diese Arbeit 1982 mit aller Konsequenz selbst beendete und als einer der wenigen ehemaligen Inoffiziellen den Mut aufbrachte, sich bei Betroffenen für seine Verbrechen zu entschuldigen. Entschuldbar ist so ein Verrat in den Augen der Opfer nicht. Dennoch stellt Hendels Dokumentation eine Zäsur innerhalb der Aufarbeitung der SED-Diktatur dar. Ihr Film ist ein persönlicher Blick, der sich nicht anmaßt, Wahrheiten zu produzieren, sondern die Unzulänglichkeit des Menschen im Blick hat, die in einer abstrahierten Betrachtung nicht möglich ist.
„Vaterlandsverräter“ war mit dieser Thematik nicht der einzige Film im vergangenen Programm der Perspektive Deutsches Kino. Elke Haucks Langspielfim „Der Preis“ zeigt ein vergleichbares Interesse an der DDR und an der inneren Zerrissenheit ihrer Bürger. Doch wo Hendel den Blick auf die Korrumpierbarkeit von Idealen legt, offenbart Haucks Spielfilm die Unzulänglichkeit des Angepassten. Ihr Protagonist Alex kehrt nach Jahren des Exils in sein Heimatdorf zurück, um dort ein Bauprojekt zu realisieren. Konfrontiert mit der einstigen Liebe und der Vergangenheit, lernt er sich dieser zu stellen. Verdrängung, Scham und die Unfähigkeit, Ängste zu artikulieren sind Themen, die nicht nur die Geschichtsaufarbeitung berühren. Beide Filme widmen sich auf eine zutiefst sensible Art und Weise den Strukturen von Repression und Konformität.
Übergeordnet finden sich diese Aspekte in vielen Filmen des diesjährigen Perspektive-Jahrgangs. Starke Positionen mit persönlichen Geschichten im Zentrum, die zwar mit politischen Themen arbeiten, ihr Rüstzeug aber im Privaten unserer Gesellschaft finden. „Lollipop Monster“ transportiert den Widerspruch von Angepasstheit und Individualität anfänglich recht klassisch in einer „Coming Of Age“-Geschichte. Regisseurin Ziska Riemann versetzt zwei frühreife Mädchen in ein grelles und überzeichnetes Pop-Drama. Während Oona am Selbstmord ihres Vaters zu zerbrechen droht, und der mütterlichen Unfähigkeit Konflikte auszutragen, zu entkommen versucht, ist Ari instinktgetrieben und setzt dem Zeitgeist des „Wir-Können-Immer-Und-Überall-Miteinader-Reden“ eine destruktive Attitüde entgegen. Unreflektiert, ja geradezu lukullisch bahnt sich Ari ihren Weg in einer Welt, die durch ihre überspitzte und aufgepfropfte Emotionalität keine Anhaltspunkte für Wahrhaftigkeit bietet. „Lollipop Monster“ zeigt eine Jugendkultur, die sich nicht von der ihrer Eltern absetzen kann. Konflikte werden hier nicht innerhalb der Familie ausgetragen, sie drängen in die Außenwelt und führen letztlich zu einem zeitgeistlichen Kuriosum, das die Wechselwirkung von Aktion und Reaktion auszuhebeln scheint. Jugend muss wachsen und sich an der Restriktion reiben, um sich selbst eine Form zu geben. Fälschlicherweise wird dieser Umstand heute mit einer Vorsätzlichkeit unterlegt, die noch niemals eine war.
An diesem Punkt setzt auch Sandra Trostels erster Dokumentarfilm „Utopia Ltd.“ an. Die Regisseurin begleitete anderthalb Jahre lang die junge Hamburger Band 1000 Robota. Sie zeigt Aufstieg und verfrühten Fall einer Band, die am überbordenden Medienhype zu scheitern droht. Denn mit dem Erfolg der drei Musiker wächst die Kluft zwischen künstlerischer Integrität und Medienpräsentation. 1000 Robota sind im Jahr 2008 die Band der Stunde. Selbst Leitmedien wie Die Zeit lassen sich von einem Hype anstecken, der letztlich jeder Grundlage entbehrt. „Drei Jungs aus Hamburg poltern gegen den verkopften, deutschen Diskurs-Pop: 1000 Robota sind so angesagt, dass die britische Musikpresse jubelt„, hieß es in einem Artikel der Wochenzeitung. Wie phrasenhaft diese Medienblase war, und wie inhaltslos das Diskurs-Geschwafel der Fachpresse, zeigt „Utopia Ltd.“ mehr als deutlich. Die Band spielt mit attestierter Popularität in nur mäßig gefüllten Hallen und muss sich mit der paradoxen Situation arrangieren, als mustergültig zu gelten. Ein Zustand, der sich mit Ziska Riemanns fiktiven Charakteren Oona und Ari deckt: Dem ständigen Ausbruch folgt kein neues Land.
Die Perspektive Deutsches Kino sagt mit dieser Ausweglosigkeit und der Konzentration auf persönliche Innenräume viel über den derzeitigen Zustand des deutschen Arthouse- und Autorenfilms. Dem jungen Autorenfilm mangelt es keineswegs an starken Positionen und Erzählungen noch an dem Mut einer differenzierten Umsetzung. Ihn will nur keiner sehen, zumindest im kommerziell relevanten Bereich. Ausverkaufte Kinosäle wie in den vergangenen Tagen werden nur die wenigsten von ihnen erleben. Leider.
Martin Daßinnies