Waiting for Raoul – Ein Rückblick auf das 65. Filmfestival von Cannes
Es gehört zu den schönsten Traditionen an der Croisette, dass dort zu Beginn jedes Wettbewerbsbeitrages einem uralten Ritual gefrönt wird. Kaum ist der Festivaltrailer über die Leinwand gelaufen und sind die letzten Klänge Ennio Morricones aus „Days of Heaven“ verklungen, brüllt irgendwer laut und vernehmlich „RAOUL!“ in den Saal – und alle lachen. Der Ritus geht auf die Siebzigerjahre zurück, auf einen spanischen Filmkritiker, der zu spät in den bereits verdunkelten Saal stürmte und angesichts der Dunkelheit verzweifelt den Namen seines Kollegen hinausbrüllte – Raoul eben. Geschichten, wie man sie in Cannes liebt.
Ob dieser gesuchte Raoul auch heute noch das bedeutendste Filmfestival mit seiner Anwesenheit beehrt oder ob sein Kollege, der einsame Rufer im Dunkel des Kinos, immer noch mit von der Partie ist, ist leider unbekannt. Fest steht aber eines: Sollten die beiden Herren sich immer noch unter dem Festivalvolk befinden, müssten sie eigentlich mit einer Akkreditierung der höchsten Stufe (in Cannes trägt diese die Farbe Weiß) auf Lebenszeit ausgestattet werden. Weil sie zumindest das akustische Bild von Cannes bis heute entscheidend mitgeprägt haben.
Betrachtet man den Wettbewerb – und der ist nach wie vor das Herzstück des Festivals -, war Cannes 2012 ein guter Jahrgang, aber kein überragender. Erstaunlich dabei vor allem, wie sehr das zuvor von Thierry Fremaux hochgelobte amerikanische Independent-Kino auf ganzer Linie enttäuschte – wenn man von Jeff Nichols´ gelungenem Wettbewerbsbeitrag „Mud“ einmal absieht. Auch andere große Namen sorgten für lange Gesichter: Abbas Kiarostami lieferte mit „Like Someone In Love“ ein derart uninspiriertes und kryptisches Filmchen ab, dass man nicht so recht wusste, worüber man sich mehr ärgern sollte: Über die Entscheidung, diesen Film in den Wettbewerb aufzunehmen oder über die offensichtliche Lustlosigkeit des Filmemachers, der vor zwei Jahren mit „Die Liebesfälscher“ („Copie conforme„) noch begeistert hatte.
Die zweite große Enttäuschung des Festivals leistete sich ausgerechnet David Cronenberg, dessen Don DeLillo Verfilmung „Cosmopolis“ mit großer Spannung erwartet worden war – zumindest ließ der Trailer einiges vermuten. Doch es kam anders: Über die gesamte Laufzeit gesehen, entpuppt sich der Film als langatmig und schwatzhaft – und zeigt zudem einmal mehr, was bereits „Bel Ami“ bei der Berlinale erahnen ließ – Robert Pattinson mag als keuscher Blutsauger eine gute Figur abliefern, komplexere Rollen aber überfordern sein beschränktes Talent sichtlich. Wobei sich die Probleme von „Cosmopolis“ keineswegs nur auf den Hauptdarsteller zurückführen lassen. Im internen Vater-Sohn-Duell von Cannes ging deshalb der Punktsieg an Davids Sohn Brandon, dessen Regiedebüt „Antiviral“ in der Nebenreihe Un Certain Regard zu sehen war. Gänzlich zu überzeugen wusste auch der nicht, weil sehr vieles in dem Film letztlich doch an das Werk des Übervaters erinnert.