„Utopien und Realitäten – Die rote Traumfabrik“ beim DOK Leipzig
Rote Träume und epochale Dokumente
Einer Spielzeug-Lok gleich, lupft ein Kran eine von scheinbar dünnen Fäden getragene, fast schwerelose Eisenbahn, das Symbol des Fortschritts schlechthin, von A nach B. Ein großer, muskulöser Mann gibt Anweisungen, wo das Dampfross hin soll, ohne kaum mehr als einen Finger zu rühren. Schnitt. Unter größter Anstrengung schleppt ein Pferd den Pflug hinter sich samt Bauer übers Feld. Wir sind mittendrin in „Sorok serdez“ („Vierzig Herzen“, 1930), einem der 24 Dokumentar- und Animationsfilme, die DOK Leipzig in der Retrospektive „Utopie und Realität – Die rote Traumfabrik“, wie die Produktionsfirma Meschrabpom-Film apostrophiert wird, vorstellt. Vieles aus dieser Film-Schatzkiste wurde noch nie in Deutschland gezeigt. Erst die Berlinale, die sich im Frühjahr 2012 dem Thema in einer eigenen Retrospektive annahm und das New Yorker MoMA rückten die Produktionsfirma wieder ins Rampenlicht.
Dabei ist das Meschrabpom-Werk geradezu episch. Vor gut 80 Jahren boomten die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland. Nicht etwa die politischen, vielmehr die kulturellen. Die Meschrabpom, die 1923 aus dem Zusammenschluss des Studio Rus mit der Filmabteilung der Internationalen Arbeiterhilfe hervorging, produzierte bis zur von Stalin verordneten staatlichen Schließung im Jahr 1936 über 500 Spiel- und Dokumentarfilme. Werke von Regisseur Nikolai Ekk, wie der erste russische Tonfilm, das Jugenddrama „Der Weg ins Leben“ (1931), gehören dazu. Oder „Nachtigall, kleine Nachtigall“ (1936), der erste abendfüllenden russischen Kinofilm in Farbe, der nur ein Jahr nachdem Rouben Mamoulian in Hollywood „Becky Sharp“ mit dem neu entwickelten Drei-Farben-Verfahren Technicolor drehte, herauskam.
Die Meschrabpom gründete die erste Animationswerkstatt der Sowjetunion, erschuf Puppen- und Zeichentrickfilme. Eines hatten beinahe alle Filme gemein: Sie versahen populäre Stoffe mit revolutionären Inhalten und politischen Botschaften. Sie zeigten den sich durch die Modernisierung verändernden Alltag, wiesen aber gleichzeitig auf die damit einhergehenden Probleme hin. Slatan Dudow widmet sich in seinem Regiedebüt „Wie der Arbeiter wohnt“ (1930) dem braven Berliner Arbeiter, der mehr haust als wohnt. (Mehr dazu hier) Am Tage schuftet der sich den Buckel krumm, ehe er am Abend in sein feuchtes Kellerloch zurückkehrt, wo sich die hungrige Familie um die Kochnische schart und wartet. Sein Verdienst reicht nicht aus, weshalb die Mietschuld gnadenlos per Gerichtsvollzieher vollstreckt wird. Welch kraftvolles Soziogramm.