Nachbericht zum 33. Filmfest Dresden (13.7.-18.7.)


Anne Isensees DIESER FILM HEIßT AUS RECHTLICHEN GRÜNDEN BREAKING BERT © Filmuniversität Babelsberg KONRAD-WOLF

Mein Aktivismus bleibt im Zug sitzen


„Es wird kämpfen für die Sache des Feinds / Wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat“ deklamiert das Strichmännchen. Auch wenn Anne Isensees Film nicht DIESER FILM HEISST AUS RECHTLICHEN GRÜNDEN BREAKING BERT heißen würde, müsste das Männchen kaum mehr anfügen, dass es sich um Bertolt Brecht handelt, um das Gedicht „Wer zu Hause bleibt“: Die überdeutliche Botschaft, die Forderung nach Positionierung gibt den Autor schließlich sofort zu erkennen. Zack, der sitzt. Selbst wenn man die Schwarz-Weiß-Zeichnung Brechts ablehnt, die nur von den zwei einander gegenüberstehenden Lagern des Faschismus und Kommunismus weiß, macht das Gedicht betroffen (bei der Preview des Festivals in Berlin blieb Einigen das Lachen im Halse stecken) – womit Isensees Film hervorragend spielt, gerade weil ihr Strichmännchen mit seiner Quakstimme so durchschnittlich wirkt wie man selbst. Und es nach dem Deklamieren gleich zum Pflanzen-Gießen übergeht. Denn ihr Film konfrontiert, Ideologie hin oder her, mit der eigenen Bequemlichkeit, in der das Lesen eines Gedichtes schon die politischste Haltung ist, die man im Alltag aufbringt. Aktiv sein und die Frage, wie man sich politisch einbringen kann – mit diesen Themen passte der Film dann auch unheimlich gut ins diesjährige Programm des 33. Filmfests Dresden, das dieses Jahr als Sommerausgabe vom 13.7 bis 18.7. stattfand, und sich das Thema „Aktivismus“ auf die Fahnen geschrieben hatte.

CIVIL WAR SURVEILLANCE POEMS (PART I) © Mitch McCabe

Der Schwerpunkt „Move to Change!“ wurde in drei Sonderprogrammen unter die Lupe genommen, die zum Einen vielfach ausgeblendete migrantische Stimmen versammelten (#saytheirnames: „Migrantische Selbstermächtigung in Almanya“ kuratiert von Aurora Rodonò) und zum Anderen verschiedene aktuelle Formen von Aktivismus weltweit ins Zentrum rückten („We insist!“ und „(Dis-)Identity Politics“, kuratiert von Sven Pötting). Pötting interessierte sich dabei vor allem für den „progressiven“ Aktivismus, den guten also, fast im Brechtschen Sinne die Feinde kennend. Im Programm „(Dis-)Identity Politics“ klafften „gut gemeint“ und „gut gemacht“ allerdings oft weit auseinander, und viele Filme erschöpften sich in der reinen, oft plakativen Beschreibung von politischen Haltungen/Protesten und fanden keine überzeugende Bildsprache. Besonders bemüht wirkte APPROPRIATION TAKES YOU ON A WEIRD RIDE. Maroan El Sanis und Nina Fischers Kurzfilm mit 3D/Motion Tracking geht der deutschen Obsession des „Indianer-Spielens“ und dem damit verbundenen Sehnsuchtsmotiv des „Naturzustandes“ von Nazi-Deutschland bis in DDR bis zu neurechten Bewegungen im Jetzt und Hier nach. Er tut das, indem er im Sekundenrhythmus eine Frage nach der nächsten aufwirft, zum Beispiel: „Werden aus den Indianern in der DDR später Reichsbürger?“. Bei einer Laufzeit von über 20 Minuten und einer AR-mäßigen visuellen Inszenierung (ein Pferd galoppiert durch die ehemalige Botschaft der USA bei der DDR; Fotos und Plakate fliegen durch die Räume) erschöpft sich das Fragespiel allerdings recht schnell beziehungsweise lässt das gar nicht uninteressante Sujet eher geschichtsblind, vereinfachend und pauschalisierend wirken. Erschütternd und nachhallend war dagegen Mitch McCabes CIVIL WAR SURVEILLANCE POEMS (PART 1), der die Radikalisierung der evangelikalen Christen als Roadtrip durch die USA mit Wortbeiträgen aus entsprechenden Radionetzwerken knallhart beängstigend und nichtsdestotrotz mit großem Feinsinn für die ökonomischen Zerrüttungen des Landes aufgreift ohne in „Hillbilly Elegy“-Prekariatsverklärung à la J.D. Vance abzudriften.

I SIGNED THE PETITION © Mahdi Fleifel

Ungemein stark war das zweite Programm „I insist!“, das zum Teil sehr persönliche politische Filme aus Hong Kong, der Türkei und anderen Ländern präsentierte. So zum Beispiel I SIGNED THE PETITION, in dem der palästinensische Regisseur Mahdi Fleifel (eine Werkschau war neulich im SİNEMA TRANSTOPIA zu sehen) das Gespräch mit einem guten Freund aufzeichnet, nachdem er eine Petition unterschrieben hatte, die Radiohead zum Boykott eines Konzertes in Tel Aviv aufrief. Der unglaublich witzig-weise Gesprächspartner und die leise Inszenierung Fleifels lassen die Hauptaussage umso drastischer wirken – „It doesn’t matter that you signed the petition“, sagt Fleifels Freund, als Palästinenser sei er von Geburt an machtlos, ohne Möglichkeiten der Selbstwirksamkeit oder Veränderung. Auch das formale Experiment glänzte in diesem Programm, zum Beispiel mit RE-ENACTING THE FUTURE von Chloé Galibert-Laîné und Kevin B. Lee, die Re-Enactments als filmisches Stilmittel im Hinblick auf ihre potentiell propagandistische Nutzbarkeit untersuchen. Dabei beleuchten Galibert-Laîné und Lee Re-Enactments (beispielsweise der französischen Revolution) mit den stilprägenden filmischen Mitteln der Zeit, in der sie entstanden, vom Stummfilm mit seinen Zwischentiteln, über die 90er und die politische Brisanz suggerierende TV-Ästhetik der durchlaufenden Live-Ticker bis hin zu Instagram Posts und Stories des 21. Jahrhunderts. Faszinierend ist nicht nur diese strenge Komposition, sondern auch der Enthusiasmus, mit der die „normalen Bürgerinnen“ in ihren Re-Enactments Identität erleben und quasi Wirklichkeit erzeugen, außerdem die Gier der Kamera nach dem besten Bild, nicht dem authentischsten.

ANTI-FRACKING FILM © Martha Colburn

Ergänzend zum „Aktivismus“-Programm oder sich nahtlos einfügend war das sorgfältig kuratierte „Pop Up_Fotofilm Flugblatt“-Programm, das sich dem Thema Flugblatt von 1965 bis 2017 verschrieben hatte. Dass hier die Form dem Inhalt manchmal folgte beziehungsweise in Flyer-Manier für den größtmöglichen Effekt montiert war, störte da nicht weiter, im Gegenteil. Die Kuratorinnen Gusztáv Hámos und Katja Pratschke (sowie der nicht anwesende Thomas Tode) widmen sich seit Jahren dem Phänomen des Photofilms – der das Medium Foto, das die Vergangenheit festhält und das Medium Film, das mit jedem neuen Bild in die Zukunft hineinarbeitet, zusammenbringt, wie es Gusztáv Hámos so schön beschrieb. Sie reicherten ihre Filmzusammenstellung mit aufschlussreichen Hintergrundinformationen an, die vielleicht auch für die anderen Aktivismus-Programme hilfreich gewesen wären (im Grunde bereichern solche Intermezzi ja alle kuratierten Programme, sie fühlen sich nur bei den Internationalen und Nationalen Wettbewerben zeitweise wie bevormundende Pädagogik oder imaginationsraubende Vorwegnahmen an). Durch die Anmoderationen bekam man auch einen Eindruck davon, dass diese Filme auch tatsächlich im politischen Kontext der Mobilisierung und Politisierung verwendet wurden, Aktivismus im kondensierten Sinne darstellten. Unter den gezeigten Arbeiten befanden sich ausgewählte CINÉ-TRACTS (Agitprop-Kurzfilme) aus dem Jahr 1968, die unter anderem von Chris Marker und Jean-Luc Godard als Gruppenaktion gefertigt wurden oder Martha Colburns ANTI-FRACKING FILM und STAND WITH STANDING ROCK.

Politisierung für und gegen das System waren auch Thema eines filmhistorischen Programms, das sich unter dem Titel DER SOUND DER REVOLUTION verschiedenen musikalisch-künstlerischen Versionen von Gesellschaftsutopie widmete. Unter den gezeigten Filmen auch Gitta Nickels LIEDER MACHEN LEUTE, einem halbstündigen Propaganda-Film über den Oktoberclub, den der Filmkritiker und Historiker Claus Löser anmoderierend am Rande der Zumutung sah. Gott sei Dank gab es dann aber eben auch so herrlich anarchische Beiträge wie DAS FREIE ORCHESTER von Petra Tschörtner, ein 17mm-Film über das freie Orchester, die ihren Arbeitsalltag 1988 zum Beispiel in Eisenwaren-Läden („Ham wir nich“, „Ham wir auch nich“, „Ham wir nich!“) produktiv und gut gelaunt in Noise-Musik verwandelten.

Gerecht ist es nicht, aber durch die Aktivismus-Programme traten die Wettbewerbe fast ein bisschen in den Hintergrund. In Erinnerung bleiben hier vor allem zwei Live-Action-Filme, die sich gänzlich unpolitisch ausnahmen: Der wunderbar fotografierte O CORDEIRO DE DEUS (THE LAMB OF GOD) von David Pinheiro Vincente, der für das Begehren genauso dringliche Bilder findet wie für die religiösen, blutigen Rituale, die der Zusammenhalt eines portugiesischen Dorfes erfordert. Und THIÊN ĐƯỜNG GỌI TÊN (A TRIP TO HEAVEN) von Dương Diệu Linh, die mit großem Humor und Feinfühligkeit von der Wiederentdeckung einer Jugendliebe im reiferen Alter erzählt.

DOOM CRUISE © Hannah Stragholz_Simon Steinhorst


Selbst das Nachsichten des 33. Filmfests Dresden ist von Bertolt Brecht geprägt oder eher von Anne Isensees BREAKING BERT. Schließlich will man ja sehen, wer den mit 20.000 Euro dotierten Filmförderpreis des Kulturministeriums abgestaubt hat. Es ist der Animationsfilm DOOM CRUISE von Hannah Stragholz und Simon Steinhorst (Animation auf Papier/Cels), der die letzten Tage der Menschheit auf einem riesigen Kreuzfahrt-Schiff imaginiert. Ein paar Kinder finden einen toten Vogel und wollen ihm nun das letzte Geleit geben, das mit der Apokalypse zusammenfällt. Nun hat man da also den Aktivismus im Kopf und Brecht, der verlangt, dass man sich doch positionieren, kämpfen soll. Und dann diese poetische Apokalypse, die sich sofort in der Assoziationskette mit Fridays for Future und mit der Flutkatastrophe verbindet. Was macht man nun damit? Macht man was damit? DOOM CRUISE selbst hat einem diese Verantwortung natürlich nicht aufgebürdet. Hier haben alle Protagonist*innen unlängst akzeptiert, dass sich die Katastrophe nicht verhindern lässt – und beschlossen, im kollektiven Abschied noch lieb und würdevoll mit allen Geschöpfen umzugehen. Wenn es auch streng genommen kein Aktivismus ist: So viel Alltagsengagement kann man sogar noch im Zug sitzend gedanklich wagen.

Marie Ketzscher