ONE BATTLE AFTER ANOTHER von Paul Thomas Anderson

Oceanwaves, Oceanwaves
„Was ist Freiheit?“ So lautet die Frage, die der von Benicio Del Toro mit der ihm angeborenen Lässigkeit gespielte Sergio dem Helden des Films, Bob (Leonardo DiCaprio), einem seit sechzehn Jahren im Untergrund lebenden früheren Freiheitskämpfer (den andere einen linksextremistischen Terroristen nennen würden), während einer urkomischen Verfolgungsjagd stellt. Da hat Sergio gerade erst erfahren, wen er eigentlich aus den Fängen der Polizei befreit hat. Die Antwort gibt Sergio selbst und sie ist so simpel wie fundamental.
In einer Zeit, in der die USA sich mit einer (demokratisch gewählten) Regierung konfrontiert sehen, die immer unverhohlener die Axt an das fast 250 Jahre alte Gemeinwesen legt und skrupellos sämtliche gesellschaftlichen Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte zurückwirft, um die amerikanische Demokratie in eine von Tech-Oligarchen beherrschte weiße, christlich-fundamentale Autokratie umzubauen, ist mit ONE BATTLE AFTER ANOTHER ein Film in den Kinos angelaufen, der kaum Zweifel daran aufkommen lässt, wem die Sympathien in dieser Geschichte gehören, der aber auch keinem simplen gut-böse Schema folgt. Er zeigt vielmehr eine Gesellschaft, die auseinander zu brechen droht und doch durch elementare Bande zusammengehalten wird, die auf beiden Seiten zu verstehen sein dürften.
Ein System zu bekämpfen, das die überdurchschnittlich Wohlhabenden überdurchschnittlich bevorzugt, während man die Mittellosen nicht nur ihrem Schicksal überlässt, sondern sie vielmehr mit allen Mitteln staatlicher Repression unterdrückt, ausstößt, ihnen die Luft zum Atmen nimmt, ist ein hartes, oftmals dreckiges Geschäft. Es wird belohnt mit Ablehnung, Diffamierung, Ausgrenzung, Verfolgung, Folter, Gefängnis und nicht selten mit dem Tod. Die Protagonisten dieses Films haben sich dem Widerstand verschrieben. Der Preis, den sie dafür zahlen müssen, ist hoch, denn sie bekommen es mit einem fürchterlichen Gegner zu tun.
Der Film beginnt mit einem knapp 30-minütigen Prolog, in dem eine Untergrundorganisation, die French 75, Flüchtlinge aus einem Auffanglager befreit, Banken sprengt oder Strommasten zerstört. Perfidia Beverly Hills (Teyana Taylor), eine explosive Anführerin der Gruppe mit einem geradezu erotischen Verhältnis zum Freiheitskampf, erklärt der Obrigkeit den Krieg. Sämtliche Anschläge richten sich gegen Dinge und Institutionen, bis Perfidia bei einem Banküberfall einen unverzeihlichen Fehler begeht.
Die Revoluzzerin, zwischenzeitlich Mutter einer Tochter, Charlene, ist nicht bereit, diese neue sie verstörende Rolle und die erlahmende Beziehung zu Pat, einem Sprengstoffspezialisten und Vater Charlenes, über ihren selbstgewählten Weg als Freiheitskämpferin zu stellen. Während Pat es nun etwas ruhiger angehen und sich in erster Linie auf seine Familie konzentrieren will, zeigt Perfidia Anzeichen einer postpartalen Depression.
Nach dem gescheiterten Banküberfall gerät Perfidia in Gefangenschaft, wird zur Verräterin und flieht schließlich außer Landes. Ihre früheren Mitstreiter werden gnadenlos gejagt. Auch Pat und Charlene müssen untertauchen. Sechzehn Jahre später leben sie als Bob und Willa Ferguson (Chase Infiniti) in der (fiktiven) kalifornischen Kleinstadt Baktan Cross. Bob, von Schuldgefühlen geplagt, gibt sich dem exzessiven Marihuana- und Bier-Konsum hin und verbietet seiner Tochter, aus Furcht getrackt zu werden, die Nutzung von Mobiltelefonen, während Willa versucht, das normale Leben eines Teenagers zu führen. Bobs permanente Angst, doch noch enttarnt zu werden, nimmt sie vor allem als Einschränkung ihrer eigenen Freiheit wahr.
Bis sich Bobs Paranoia, in einem Moment, in dem er selbst am wenigsten damit rechnet, bewahrheitet. Col. Steven J. Lockjaw (Sean Penn), von Perfidia einst gedemütigt, um ihr dann in einer Art Sadomaso-Beziehung zu verfallen, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die French 75 zu vernichten. Nun hat er auch Bob und Willa ausfindig gemacht. Doch der alte Buschfunk funktioniert noch. Bob kann gewarnt fliehen, während sich Deandra (Regina Hall), eine alte Mitstreiterin, seiner Tochter annimmt und sie zunächst in Sicherheit bringt.
Der Rest des Films zeigt die Ereignisse eines Tages, an dem Bob verzweifelt versucht, Kontakt mit den Untergrundkämpfern aufzunehmen, sich aber beim besten Willen nicht an das verabredete Codewort erinnern kann. Unterstützt von Willas Karate-Sensei Sergio, der selbst eine Art Underground Railroad für mexikanische Migranten betreibt, kommt er schließlich doch noch auf Willas Spur, während diese Lockjaw in die Hände fällt, der ein ganz eigenes perfides Interesse an ihrem Verschwinden hat.
Der Ist-Zustand der USA
All das geschieht zu einem nervösen Rhythmus vor einem ganzen Tableau an Szenen, die verschiedene Fragen zum Ist-Zustand der amerikanischen Gesellschaft aufwerfen. Thematisch reich und die bedrückende Brisanz des Gezeigten nie aus den Augen verlierend, bewahrt sich der Film dennoch einen schrulligen Humor, der diese hochdramatische Geschichte leicht konsumierbar macht. Bob, ein nervöser Wiedergänger des von Jeff Bridges gespielten Dude in THE BIG LEBOWSKI (1997), zeigt Superstar DiCaprio ganz auf der Höhe seines komödiantischen Talents. Neben seinen Auftritten in THE WOLF OF WALL STREET (2013) und ONCE UPON A TIME IN… HOLLYWOOD (2019) darf diese Performance zur Trias von DiCaprios besten Leistungen gezählt werden.
Auch der restliche Cast überzeugt auf ganzer Linie. Sean Penn, mit motorischem Tick und ausgesucht scheußlicher Frisur ausgestattet, ist so gut wie seit Jahren nicht. Sein Col. Lockjaw ist ein mit beängstigender Dringlichkeit vorgehender Bösewicht. Seine Motivation, so verabscheuungswürdig sie auch sein mag, ist in sich schlüssig und macht diese Figur doch zur traurigsten Gestalt des ganzen Films. Sein Counterpart ist interessanterweise nicht Bob, sondern Perfidia, die, obgleich sie nach einer halben Stunde die Handlung verlässt, dem Film ihren Stempel aufdrückt. Die Musikerin Teyana Taylor, die vor zwei Jahren einen vielbeachteten Auftritt in A.V. Rockwells Drama A THOUSAND AND ONE hatte, dürfte mit ONE BATTLE AFTER ANOTHER erstmals einem breiten Publikum bekannt werden.
Benicio Del Toros Sergio wiederum erdet den Film. Er ist kein Revoluzzer der lauten Worte und gewichtigen Ansprachen. Sergio bekämpft das System planmäßig und entspannt. Er hat ein Netzwerk aus Helfern aufgebaut, die ihr gutes Werk unter dem Radar verrichten und dabei deutlich effizienter vorgehen als die French 75, die sich am Ende doch eher durch Phrasenhaftigkeit und Revolutionsfolklore auszeichnen. Unter dem unerbittlichen Druck von Lockjaws Schergen ist noch jede*r von ihnen bereit, die alten Kumpanen ans Messer zu liefern.
Chase Infiniti gibt als Willa ein bemerkenswertes Kinodebüt, das vor allem im letzten Drittel des Films über sich hinauswächst und die eigentlich auf komische Rollen spezialisierte Regina Hall darf als reaktivierte Untergrundkämpferin Deandra ihr dramatisches Potential ausspielen. In einem Abgrund aus Boshaftigkeit und absurder Komik präsentieren sich schließlich die Männer des Christmas Adventurers Club, einer White Supremacist-Gruppe, der sich Lockjaw anschließen will und die Amerika (Achtung! Deep State) „safe and pure“ halten möchte.
PT Anderson überstrahlt alle
Der eigentliche Star von ONE BATTLE AFTER ANOTHER aber ist Paul Thomas Anderson, der, wie bei allen seinen Filmen, für Regie und Drehbuch verantwortlich zeichnet. Es ist sein zehnter Film und abgesehen von seinem Debüt HARD EIGHT (LAST EXIT RENO, 1996), einer kleinen Gangstergeschichte im Spielermilieu, hat er sie auch alle produziert. Seit seinem zweiten Film BOOGIE NIGHTS (1997) gehört Anderson zu den wichtigsten und prägendsten Gestalten des amerikanischen Autorenkinos. War sein Schaffen zunächst selbst stark beeinflusst von den Heroen des New Hollywood der 1970er Jahre, wie Robert Altman und Martin Scorsese, ist sein eigener Stil heute Heerscharen an jungen Filmemachern Vorbild.
Auch ONE BATTLE AFTER ANOTHER zeigt den Regisseur ganz auf der Höhe seiner Kunst. Der Film eröffnet einen großen Blick auf das amerikanische Drama und bleibt doch ganz nah an seinen Figuren. Wie ein Stück Free Jazz wechselt er immer wieder den Rhythmus und hält das Publikum bei der Stange. Basierend auf Thomas Pynchons Roman „Vineland“ (1990) vereint er Tragik und Komik, erzählt aber auch, wie der Geist der Revolution von einer Generation auf die nächste übertragen wird und wie diese nächste Generation die Konsequenzen aus den Handlungen der vorherigen tragen muss. Wie Kämpfe, die geführt wurden, wieder geführt werden müssen.
In VistaVision gedreht, lässt sich der Film hierzulande am besten in einer IMAX- oder 70mm-Projektion genießen. Michael Baumans Kameraarbeit trägt trotz des zeitgenössischen Bezugs Referenzen an das Kino der 1970er Jahre, zitiert Kubrick, Spielberg, Friedkin, Demme, ja sogar James Camerons TERMINATOR 2: JUDGEMENT DAY (1991). Der Höhepunkt des Films, eine Autoverfolgungsjagd über den „River of Hills“ im südkalifornischen Borrego Springs, verbindet die adrenalintreibende Spannung von MAD MAX mit der Western-Grandezza eines Sam Peckinpah-Films.
Die 162 Minuten Laufzeit von ONE BATTLE AFTER ANOTHER vergehen wie im Fluge. Dafür ist zum Teil der ebenso elegante wie temporeiche Schnitt von Andy Jurgensen verantwortlich. Einen großen Anteil daran hat aber auch Jonny Greenwood, der zum sechsten Mal einen Film von Anderson vertont hat. Greenwood untermalt den Film mit nervösen, jazzigen Pianolinien, die bisweilen von orchestraler Wucht unterbrochen werden und zum Ende einem perkussiven Stakkato weichen.
Die meisten Filme Paul Thomas Andersons spielen in der Vergangenheit, zeichnen sich durch exquisite Ausstattung und Kameraarbeit aus und zeigen komplizierte Protagonisten in komplexen Situationen. Wenn es jedoch ein Thema gibt, das sich wie ein roter Faden durch sein Gesamtwerk zieht, dann ist es die Familie, ob biologisch oder durch Wahlverwandtschaft, nach der alle seine Figuren streben.
Der alternde Hitman in HARD EIGHT, der mit besonderem Talent ausgestattete Pornodarsteller in BOOGIE NIGHTS, das gesamte, verzweifelt nach menschlicher Nähe suchende Ensemble in MAGNOLIA (1999), der neurotische Unternehmer in PUNCH-DRUNK LOVE (2002), der skrupellose Öltycoon in THERE WILL BE BLOOD (2007), der unter posttraumatischer Belastungsstörung leidende Kriegsveteran in THE MASTER (2012), der dauerbekiffte Privatdetektiv in INHERENT VICE (2014), der exzentrische Modedesigner in PHANTOM THREAD (DER SEIDENE FADEN, 2017) oder der jugendliche Star-Up-Gründer in LICORICE PIZZA (2021). Jede dieser Figuren sucht letztlich eine menschliche Verbindung, Nähe, Liebe, eine Familie.
Und so ist auch ONE BATTLE AFTER ANOTHER bei all seiner politischen Komplexität, seinen Straßenschlachten und wilden Verfolgungsjagden, in erster Linie eine Vater-Tochter-(und im übergeordneten Sinne auch eine Mutter-Tochter-)Geschichte. Wie Bob im Film hat auch Anderson Kinder mit einer afroamerikanischen Frau (Maya Rudolph) – was ONE BATTLE AFTER ANOTHER wohl auch zu seinem persönlichsten Film macht. Die Ängste und Sorgen, die man sich als weißer Vater von Mischlingskindern in einer wieder offener rassistisch auftretenden Gesellschaft macht, kennt Anderson nur zu genau. Die Unzulänglichkeiten von DiCaprios Figur („Ich kann meiner Tochter nicht die Haare machen“) dürften eine ironische Spiegelung von Andersons eigener Wahrnehmung als Vater sein.
Es ist diese emotionale Ebene, die ONE BATTLE AFTER ANOTHER über seine tagesaktuellen Bezüge hinaus einem breiteren Publikum zugänglicher machen dürfte. Mit ihr verbindet sich auch der Hoffnungsschimmer, mit dem der Film uns in eine wenig Mut machende Gegenwart entlässt. Der Kampf endet nicht. Er wird fortgeführt von einer anderen Generation, die neue Wege finden wird, ihre Ziele zu formulieren und für diese mit ihren Mitteln zu kämpfen. Denn die Antwort auf Sergios Frage „Was ist Freiheit?“ hat heute wie morgen Bestand: „Keine Angst.“
Thomas Heil
ONE BATTLE AFTER ANOTHER, Regie: Paul Thomas Anderson, Darsteller_innen: Leonardo DiCaprio, Sean Penn, Teyana Taylor, Benicio Del Toro, Chase Infiniti, Regina Hall, Tony Goldwyn, Alana Haim, Shayna McHayle, Eric Schweig u.v.a.
ONE BATTLE AFTER ANOTHER läuft seit dem 25. September im Kino.
Mögliche Oscarnominierungen: Bester Film, Regie, Drehbuch, Hauptdarsteller, Nebendarstellerin, Nebendarsteller, Casting, Kamera, Filmschnitt, Ausstattung, Kostüme, Sound, Original Score.