Der kiezkieken-Blog

Dit war schau!


Festivalstart im Atze, Foto: Oliver Petrus

Festivalstart im Atze, Foto: Oliver Petrus

Inkognito-Neuköllnerin

Der Weddinger, so scheint es, ist zwar filminteressiert, aber auch kurzentschlossen. Das war gut zu sehen am vergangenen Wochenende, als das Kurzfilmfestival kiezkieken seinen Auftakt im, genau, Berliner Stadtteil Wedding feierte. Während anfangs die Zuschauer nur allmählich in das Musiktheater ATZE strömten, herrschte kurz vor dem geplanten Beginn plötzlich ein großer Andrang. Die gesamte Planung des Festivaltages wurde kurzerhand um eine halbe Stunde nach hinten verschoben. An diesem Sonntag sind es vorrangig die Bezirksbewohner selbst, die die filmischen Reflexionen des Wedding in Augenschein nehmen. „Alle Leute aus dem Kiez sind da„, staunte ein Sitznachbar. Als Bezirksfremde rutscht man da gleich unweigerlich etwas tiefer in den Sitz. Trotz des holprigen Starts fand letztlich jeder Besucher einen Platz in dem beeindruckend großen Saal des ATZE, der so riesig ist, dass die extra für das Festival aufgestellte Leinwand fast ein bisschen mickrig wirkte. Den Anfang machte der Kurzfilm „Hilfe!„, in dem ein türkischer Migrant für seine Frau lediglich etwas Hefe besorgen soll, aufgrund der Sprachschwierigkeiten jedoch nur das Wort Hilfe herausbringt und so reichlich Verwirrung stiftet. Das Publikum amüsiert sich, lacht auffällig laut, denn neben „Hilfe!“ bestechen auch viele anderen Wettbewerbsbeiträge durch eine Komik, die sich auf Weddinger Wahrzeichen, Kulturenclash, sozialen Portraits sowie Absurdem und Alltäglichem gründet.

Der Weddinger als Zuschauer, Foto: Oliver Petrus

Der Weddinger als Zuschauer, Foto: Oliver Petrus

Sehr eindrucksvoll sind die beiden kurzen Dokumentarfilme „Plötzensee“ und „Unsere Torfstraße„, die an diesem Sonntag die ersten beiden Plätze belegen: „Am Plötzensee“ betreibt ein älteres Ehepaar seit Jahren den dortigen Bootsverleih. Der Filmemacher Michael Terhorst begleitete das Paar zwei Tage lang durch ihren Arbeitsalltag, illustrierte ihr privates Miteinander, ihre Kommunikation, aber auch ihre Sorgen und Nöte. Ähnlich verfuhr auch Sven Mücke mit „Unsere Torfstraße„, der in seiner 30-minütigen Dokumentation seine unmittelbare Nachbarschaft vorstellte und zu kiezrelevanten Themen befragte. Es sind letztlich die Menschen, die den Erfolg der Filme begründen – einfache Leute, alternative Studenten, Hausfrauen, Rentner, Punks und Kiezphilosophen, in denen sich der Weddinger im Publikum wiedererkennt, denn ihre Geschichten und Lebensumstände ähneln sich den seinen. Und auch wenn sie noch so alltäglich, kaum bedeutsam oder skurril erscheinen, sind sie herzerwärmend und saukomisch zugleich.

Nicht ganz so komisch, dafür vielschichtig und einfühlsam präsentiert sich der Film „Anton„. Er erzählt eindringlich die Geschichte eines einfachen Fahrradmechanikers und rückt damit ebenso das urbane Leben in der Großstadt, das hart und beklagenswert, aber auch einmalig und zufriedenstellend sein kann, in den Mittelpunkt. Der Film von Jenny Käfer wurde dafür vom Publikum auf den dritten Platz gewählt. Doch noch bevor sich überhaupt abzeichnet, wer an diesem Abend zu den Gewinnern gehören wird, vergisst man irgendwie im Laufe des Programms, dass man eigentlich nur Gast in diesem Kiez ist und sich als Inkognito-Neuköllnerin dreist unter die Weddinger gemischt hat. Warum?  Je mehr Filme auf der Leinwand vorbeiziehen, umso mehr erfüllt sich der Saal  mit einer Art neugewonnener Liebe zum Stadtteil, sodass selbst hartgesottene Kiezfremde ein bisschen ins Schwärmen geraten.

Filmemacher im Gespräch, Foto: Oliver Petrus

Filmemacher im Gespräch, Foto: Oliver Petrus

Eine Ausnahme bildet hier leider der Beitrag „Rolling Wedding„. Etwas anstrengend ist es schon, sich minutenlang und beinah völlig unkommentiert anzuschauen, wie die Protagonistin des Films sich mit ihrem Körper an der Hauswand ihres Wohnblocks entlangrollt. Doch weder dieser Wettbewerbsbeitrag noch die etwas holperige Moderation durch den Abend kann das Gefühl zunichte machen, das den Kinosaal durchflutet und sich in den Zuschauern manifestiert: Wedding ist ein faszinierender Kiez mit ehrlichen Menschen und reich an spannenden Geschichten. Während der Weddinger an diesem Abend auf der Leinwand über sich selbst lachen und staunen konnte, verlässt man als Nichtansässiger das kiezkieken Festival mit dem Gefühl, ein weiteres Stück Liebenswürdigkeit in Berlin entdeckt zu haben.

Alina Impe

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