Interview: Mathias Ortmann über das Kino in Singapur


Sie sagen, daß Kino aus Singapur noch keine eigene Marke ist. Gibt es dort eine funktionierende, kommerzielle Filmindustrie, oder bewegt sich vieles im Independent-Bereich?
Ortmann: Ende der 60er verließen die großen und erfolgreichen Studios Shaw und Cathay und auch die kleineren Produktionsfirmen das Land. Lange Zeit gab es überhaupt kein eigenes, lokales Kino. Erst Mitte der 90er begann die Wiederauferstehung und was wir heute sehen, nach knapp 20 Jahren Entwicklung, das ist gerade erst erwachsen geworden. Es gibt kommerzielle Filme, die in Singapur gemacht werden, staatliche Institutionen, wie auch lokale Produktionshäuser, die in Singapur Filme machen oder finanzieren und damit Geld verdienen. Das sind in erster Linie Filme für das heimische und weitere regionale Kinopublikum, wo TV-geprägte Sehgewohnheiten nach festen Formaten, zumeist in den Genres Comedy und Horror verlangen. Auf Festivals gelangen diese Filme selten und die filmische Qualität ist nicht gut. Daneben aber hat sich fortgesetzt, was den Neuanfang überhaupt auf den Weg brachte: Junge Regisseure, die etwas mitteilen wollen und teilweise oder auch ganz unabhängig Filme machen. Und da haben sich einige einen internationalen Namen gemacht, wie Eric Khoo, Tan Pin Pin und Royston Tan. Es sind letztlich wirkliches Talent und Qualität, die sich durchsetzen, Preise gewinnen und die singapurische Filmlandschaft und Kinokultur sich haben entwickeln und reifen lassen. An diesem Punkt stehen wir heute und hier knüpft unsere Filmauswahl ganz aktuell an.

Welche Rolle nimmt das Kino im Land ein?
Ortmann: Kino ist – und das nicht nur in Singapur – ein Unterhaltungsmedium, es ist Entertainment und eine Industrie. Dem kann sich auch der leidenschaftlichste und inspirierteste Künstler nicht entziehen. Gemacht wird, was möglich ist – und was das genau ist, darüber entscheidet das wechselseitige Verhältnis zwischen Publikum, Kreativwirtschaft und Recht. Dieses Gleichgewicht ist aber niemals fix, sondern muß ständig neu eingerichtet werden, es bewegt sich. Als wirtschaftlicher Faktor ist Film in Singapur, wo Kinogehen nationale Passion ist, nicht unwichtig, es dominieren aber zumeist internationale Mainstream-Produktionen aus Asien und Hollywood das Geschäft, wie anderswo auch. Sozial ist Film bedeutend, weil heimische Produktionen natürlich Lebensbilder zeichnen und Realitäten zeigen, die sonst nicht aus dem Bereich des nur Privaten herausgelangten. Und daß es eine künstlerische Notwendigkeit ist, die sich in diesen Filmen mit kleinem bis mittlerem Budget und großen Ambitionen ausspricht, das beweisen die mittlerweile gar nicht seltenen Auszeichnungen für singapurische Filme auf internationalen Festivals.

Welche Themen werden verhandelt?
Ortmann: Auf sehr unterschiedliche Weise immer die eigene Situation, die Erfahrungswirklichkeit der heutigen Generation von Filmemachern. Da gibt es einen gehörigen emotionalen und sozialen Ausdrucks-Stau, so möchte ich das mal nennen, etwas, das sich Wege und Möglichkeiten der cineastischen Artikulation sucht. Es findet sie, wie gesagt, ganz vielfältig, ob dokumentarisch oder als Satire, vom Eskapismus-Film bis hin zum durchdringenden Kammerspiel als einer sozialen Pathologie der Selbstbeobachtung. All das kann Kino sein; das alles ist filmisch legitim. Der singapurische Film hat eine erstaunliche thematische Bandbreite, was daran liegt, daß es nicht nur ein Typ von Filmemacher ist, der die Möglichkeit hat, eigene Stoffe auch praktisch zu realisieren. Die lokale Infrastruktur ist reich.

Gibt es eine eigene Bildsprache bzw. Stilistik?
Ortmann: Teilweise. Zunächst einmal ist das Medium Film ja von jeher universell, seine Sprache leicht übersetzbar und grundlegend kompatibel. Vorbilder sind überall verfügbar und in einem Land wie Singapur, das selbst multikulturell geprägt ist und viele authentische Hintergründe besitzt, da gibt es für beinahe jeden Geschmack eine nachahmenswerte Vorlage. Das wird auch reichlich genutzt – aber längst geht es den jungen Regisseuren um mehr als nur eine Neuakzentuierung von Bekanntem, es geht ihnen um den eigenen Ausdruck. Da gibt es einige Schulen, die sich an Produktionshäusern und Bildungsinstitutionen festmachen, aber das sind Nuancen. Es ist die Handschrift eines Regisseurs, die hier bedeutsamer ist. Und so etwas stellt sich erst mit der Zeit ein. Man sieht das nicht in einem Erstlingswerk. Ich glaube es wird noch ca. 10 Jahre dauern, bis sich hier klarere Tendenzen zeigen – vielleicht bleibt eine solche Entwicklung auch ganz aus, und es müßte nicht einmal schade drum sein. Denn mich interessieren vor allem die Vielfalt und das jeweils Persönliche eines filmischen Anliegens. Aber dazu noch eine Anmerkung: Das singapurische Kino ist nicht bloße Nische und auch nicht nur exotisch. Es ist wirklich, es ist real, das finde ich viel spannender.

Welcher Film der diesjährigen Auswahl hat sie am meisten bewegt?
Ortmann: Darf ich zwei nennen? Das ist zum einen der Experimentalfilm „Earth“ von Ho Tzu Nyen, den wir in einer Neuvertonung, der Fassung „berlin“, aufführen werden; und zum zweiten ein Kurzfilm, „Father“, von Jonathan Chong.

Interview: Martin Daßinnies

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