Delicatessen – Das Berliner Tischgespräch im März 2011 Teil 2


Jörg Frieß

Jörg Frieß

Bei Leni Riefenstahl stehen die Leute bis zum Kupfergraben.

Schmidt zu Frieß: Wie arbeitest du dich ein, wenn du Filmreihen vorbereitest?
Frieß: Wir arbeiten viele historische Reihen aus. Kinematografie heute: Japan ist fast schon eine Ausnahme. Wir gehen konzeptionell vor. Achten darauf, dass verschiedene Positionen in der Reihe abgedeckt sind. Verschiedene Genres und Gattungen sollen eine Rolle spielen. Was ist in Deutschland noch nicht im Kino gelaufen und was gibt es noch nicht auf DVD?
Buttgereit:Love Exposure“ gibt es doch als DVD.
Frieß: Wurde aber in Deutschland nicht vernünftig ausgewertet.
Buttgereit: Bei der Berlinale lief im Forum „Heaven´s Story“ ein 280-Minüter…
Schmidt: Bei uns wurde in diesem Jahr eine 450 Minuten Doku eingereicht und die Regisseurin besteht darauf, den Film in voller Länge zu zeigen. Sie hat das Public Viewing mit der Kamera begleitet.
Frieß: Als Installation?
Schmidt: Nein, am liebsten auf der Kinoleinwand. Wie viele Zuschauer kommen denn zu euren Filmen?
Frieß: Da gibt es eklatante Unterschiede. Zeigen wir einen Leni Riefenstahl-Film, stehen die Leute bis zum Kupfergraben. Im Durchschnitt waren es im vergangenen Jahr 44 Besucher. Im Grunde haben wir jeden Tag einen besonderen Film, von denen viele auch so bald nicht mehr in Deutschland laufen werden. Andererseits machen wir elf Monate Programm und können nicht jeden Tag nach außen unzählige Tagestipps kommunizieren. Also muss sich jeder, der sich für unser Programm interessiert, bildungsbürgerlich ins Programm einlesen. Es sei denn jemand schreibt über eine besondere Reihe. Eigentlich setzen wir aber darauf, im Fluss der Berliner Kinokultur wahrgenommen zu werden. Im September starten wir eine Reihe, die „Unter Vorbehalt“ heißen wird, da rechnen wir mit einigem Andrang.
Schmidt: Welche Filme sind das? Nenn doch ein Beispiel.
Frieß: Zum Beispiel „Jud Süß“ oder „Heimkehr„. Die dürfen mit Einführung und Publikumsgespräch gezeigt werden. Ich will nicht unken, aber ich glaube, die wird sehr erfolgreich.
Buttgereit: Berlin hat einen besonderen Stellenwert mit seinem besonderen Angebot.
Frieß: Nun ja, mit 3,5 Millionen Einwohnern hast du eine sehr heterogene Bevölkerung. Jede Reihe, ob 11mm Fußballfilm, asiatische Filmwochen, japanische Filmreihe oder afrikanisches Filmfestival, alles findet sein Publikum.

Das Prinzip der Midnite-Movies

BFF: Wieland Speck hat im Gespräch die Idee entwickelt, Filme nicht mehr wochenweise zu verleihen, sondern mit einer festen Anzahl an Vorführungen. Könnte das eine Möglichkeit sein, um Filmen wieder mehr Entwicklungsraum in den Kinos einzuräumen?
Buttgereit: Das ist das Prinzip der Midnite-Movies. Weil jemand den Film Woche um Woche zeigte, konnte sich beispielsweise Lynchs „Eraserhead“ zum Klassiker entwickeln. Jede Woche kamen mehr Besucher.
Dwyer: Ich denke mir das oft bei tollen Drehbüchern, die ich lese, dass den Film niemand sehen wird, weil er keine Zeit hat. Das ist sehr schade.
Buttgereit: Das wirkt sich auch auf die Filmproduktion aus. Für eine Woche lohnt ein Film in Cinemascope doch gar nicht.
Dwyer: Genau das finde ich falsch. Ein Film im Kino braucht ein Kinoformat.
Frieß: Überall wo Fernsehgeld drinsteckt, wird fürs Fernsehen produziert. Es ist doch eher so, dass ich mir im Kino einen Fernsehfilm anschauen muss.
Buttgereit: Der einzige Unterschied ist doch, dass der Balken anschließend im Fernseher signalisiert: Ich bin ein Kinofilm. Man muss sich den Begebenheiten stellen. Leute, die heute in Cinemascope drehen, drehen an der Realität vorbei.
Dwyer: Ich freue mich drüber, wenn ich im Kino sitze.
Buttgereit: Erinnert ihr euch an Jacques Tati, der in 70mm gedreht hat und darauf bestand, dass der Film nur in 70mm vorgeführt wird? (Anm.: Tati ging Bankrott an eben jenem 70mm-Film: „Playtime„). Cinemascope ist hoffnungslos romantisch. Bei Tarantino funktioniert es als Sergio-Leone-Zitat, weil er auch die Musik von Morricone einbaut und diverse Referenzen nutzt. Wie heißt der Film, den du in Cinemascope gedreht hast?
Dwyer:Was du nicht siehst„. Er läuft im Juni an. Das ist ein Kinofilm. Mich stört es auch nicht, die Filme auf meinem großen Fernseher etwas kleiner zu sehen.

Redaktion & Protokoll: Denis Demmerle
Fotos: Andreas Sohn

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