Filmreihe: Claude Chabrol im Lichtblick

Chabrols Charakterstudie


Filmszene: "Hühnchen in Essig"

Filmszene: "Hühnchen in Essig"

Sukzessiv gefolterte Charaktere, erhaben in ihrem banalen Verhalten – man weiß bei Chabrol nie so genau, ob man sich gerade ein Scheißhaus oder ein Pantheon anschaut. Romantik ist aber auch ein merkwürdiges Wort: Vielfach besetzt und schwer greifbar. Dazu wird sie noch allzu gerne mit Kitsch verwechselt. Claude Chabrol studierte in Paris Literaturwissenschaft und Pharmazie um anschließend mit Francois Truffaut und Éric Rohmer als Filmkritiker bei den „Cahiers du Cinéma“ zu arbeiten. Den Rest seines Lebens verbrachte er damit, Filme zu drehen. Es wurden am Ende beinahe 60 Produktionen fürs Kino und 20 fürs Fernsehen.

Vom 20. Oktober bis zum 2. November bietet das Lichtblick Kino eine kleine, einsteigerfreundliche Auswahl an Arbeiten des Mannes an, der nicht müde wurde, den Finger in die Wunden der Gesellschaftsschicht zu legen, aus der er selbst stammte: dem Bürgertum. Falschheit, Engstirnigkeit, Egoismus und vor allem Scheinheiligkeit galt es zu entlarven. In einem Interview mit der ZEIT im Jahre 2003 ging er sogar so weit zu sagen, dass das Bürgertum „die einzige Klasse [ist], die als solche noch existiert. Sie klammert sich an ihre Existenz und versucht um jeden Preis zu überleben. Sie ist immer noch die Klasse, die uns beherrscht, auch wenn hin und wieder ein Kleinbürger Staatschef wird. Die Bourgeoisie hat die Kohle und den Einfluss. Allein deshalb muss man sich mit ihr beschäftigen.“ Markige Worte, aber es war nicht Selbsthass, sondern Humor, trocken wie ein französischer Rotwein, der die Antriebskraft hinter seiner Produktion setzte.

Es ist ja auch zum Lachen: Die gesellschaftliche Integration der Individuen (ins Bürgertum) wird von diesen durch einen ungeheuren Triebverzicht erkauft, der nach Freud für das Unbehagen an der Kultur verantwortlich ist. So geht das Streben nach Leistung mit einer spezifischen Organisation von Sexualität einher, als deren Merkmal die Desexualisierung des Körpers bei gleichzeitiger Zentralisierung der Libido auf die Geschlechtsorgane hervortritt. Und weil das nicht nur (tragisch)komisch, sondern auch ungerecht ist, scheiden in Krisen stets diejenigen aus, die ihren Subjektstatus verspielt haben – eben weil die Zentralisierung der Libido misslang. Hervorragend umgesetzt findet man dieses fragwürdige Streben nach Anerkennung und Achtung in „Hühnchen in Essig“ (1985) , einer makabaren Kriminalkomödie die in der fanzösischen Provinz spielt. Jean Poiret gibt hier in seiner Rolle als Inspektor Jean Lavardin einen Polizisten, dem mit einiger Sicherheit und einer noch größeren Süffisanz bewusst ist, dass er Verbrechen und Korruption verwaltet und eben nicht bekämpft. Auch in „Die Farbe der Lüge“ (1999) ist die französische Provinz Ort des Geschehens. Eine junge Frau wird ermordet aufgefunden und ein behinderter, alibiloser Maler verdächtigt. Das ist die Oberfläche – und unter der brodelt es bekanntermaßen. Ein distanzierter Kriminalfilm, der aber gleichzeitig an den Mut zu echten, tiefen Gefühlen appeliert.

Am 12. September 2010 verstarb Claude Chabrol. Das ist bedauerlich, denn in einer Welt, in der der Überfluss zwar immer noch vorhanden ist, aber in der weniger Menschen über die Mittel verfügen , sich am Konsum zu beteiligen, weil Löhne sinken, die Menschen mehr Überstunden leisten müssen oder gleich ganz als ökonomisch Überflüssige auf den Almosentopf des Staates verwiesen werden, in einer Welt in der sich die Sexualmoral unzweifelhaft gelockert hat, aber wenn der Körper einmal freigegeben wurde, Zurichtungen sondergleichen ertragen muss und nicht mehr erotisch in Szene gesetzt wird, sondern zum nackten Material verkommt – in einer Welt wie dieser, würde Chabrol mehr als genug Stoff für wirklich gute Filme finden.

Joris J.

Lichtblick Kino, 20. Oktober bis 2. November, www.lichtblick-kino.org