Der kiezkieken-Blog

Dit war schau!


OrwoHaus Marzahn, Foto: Oliver Petrus

OrwoHaus Marzahn, Foto: Oliver Petrus

Russen, Nazis und HartzIV?

Wer aus den inneren Bezirken Berlins kommt und nach Marzahn fahren will, sollte ein bisschen Zeit einpacken. Eine Weile dauert die Fahrt mit der S7, doch schließlich sieht man bereits von der S-Bahn aus, wie plötzlich die Plattenbauten am Horizont auftauchen. Marzahn, auf den ersten Blick wirst du deinem Klischee gerecht. Ausstieg an der Poelchaustraße, alles ist etwas karg, grau und ziemlich menschenleer. Fehlt nur noch, dass ein Strohballen an einem vorbeirollt, als sei Marzahn ein verlassener Geisterbezirk im nicht ganz so Wilden Osten. Das ORWOhaus, ebenfalls in einem Plattenbau gelegen, wirkt zunächst von außen nicht minder verlassen und wer heute zum Kiezkieken will, folgt im Treppenhaus den Plakaten und aufgemalten Pfeilen, die einem den Weg durch schwere Eisentüren weisen. Beim Öffnen der letzten Tür wendet sich jedoch das Blatt: Musik, Stimmengewirr und der Geruch von Essen strömen einem plötzlich entgegen. Beim ersten Blick in den etwas zu kleinen Vorführsaal werden Erinnerungen an die eigene Zeit im Jugendclub wach, denn alles ist ein bisschen kärglich, die für die Zuschauer aufgestellten weißen Klappstühle wirken schon beim Hinsehen unbequem und an der hauseigenen Bar gibt es die Getränke natürlich zum Soli-Preis.

Das Programm eröffnet der Film „Marzahn – eine Anamnese„, der den Zuschauern wieder mal Plattenbauten präsentiert, in denen man nach Angaben eines Marzahners niemals heizen muss, und rauchende Zwölfjährige, die aber ungern überhaupt irgendwelche Angaben zu ihrem Bezirk machen. Während dieser Film vor allem darum bemüht ist, den eigenen Blickwinkel der Kiezbewohner abzubilden, so richten andere Beiträge ihren Fokus stattdessen auf die Außenwirkung von Marzahn. In „Berlin, Marzahn – Blicke auf Marzahn“ orakeln Menschen aus Mitte oder Prenzlauer Berg über den Plattenbaubezirk, obwohl sie selbst noch nie dagewesen sind und in „Von gestern zu heute – Was denkst du über Marzahn?“ befragen Jugendliche Passanten am Alexanderplatz und ernten mit Aussagen wie „Da kommt diese fette Komikerin im pinken Strampler her“ und „Russen, Nazis und HartzIV“ offensichtlich kein besonders positives Feedback.

Musik nach den Filmen, Foto: Oliver Petrus

Musik nach den Filmen, Foto: Oliver Petrus

Zu den Gewinnern gehören an diesem Sonntag allerdings genau die Filme, die sich weniger mit Klischees, sondern stattdessen mit interessanten Teilaspekten des Kiezes beschäftigen. Auf dem dritten Platz landet der von den beiden Teenagern gedrehte Film „Perspektive Marzahn„. Der Kurzfilm ist das Erstlingswerk der beiden Filmemacher Daniel Heimbach und Sebastian Finck und und zeigt vor allem die historischen Wurzeln des Stadtteils, was bedingt durch die selbst eingesprochenen, lehrbuchhaft vorgetragenen Kommentare der Schüler und einem Soundtrack-Clash aus Beatles und Sido wie ein Referat aus der 8. Klasse wirkt und damit unfreiwillige, aber grandiose Erheiterung im Publikum auslöst. Den zweiten Platz belegt der Film „Rund um den Butzer See„, für den der Rentner Rolf Diessner sich einfach mal seine Super 8-Kamera geschnappt hat und um den See marschiert ist, über die Jugendlichen und FKK-Badenden am Strand schimpft und sich an der Gesellschaft von Haubi, dem Haubentaucher, erfreut. Der beste und erstplatzierte Beitrag des Abends ist schließlich „Die Schule an der Weide„, ein Dokumentarfilm über eine Schule in Marzahn mit selbigen Namen, die eine spannende Historie vorzuweisen hat: In den 70er Jahren erbaut, wurde sie Zeuge des DDR-Alltags, der Wende und schließlich beinah Opfer eines Amoklaufs, was aber glücklicherweise verhindert werden konnte. Die Schule wurde mittlerweile abgerissen und zurück bleiben traurige Schüler und Lehrer, die ein Stück Vergangenheit teilen. „Die Schule an der Weide“ schafft den Spagat zwischen Empathie und der dokumentarischen Vermittlung von Wissen, was von den Zuschauern mit rauschendem Applaus belohnt wird.

Irgendwann ist es dunkel und das Festival neigt sich dem Ende. Ein bisschen unwohl ist einem beim Blick auf die Plattenbauten immer noch und man fragt sich, ob man allein und heile wieder zurückkommt. Eine glückliche Fügung ist es da, wenn man auf freundliche Ex-Marzahner trifft, die einem den Weg weisen und das heute angehäufte Wissenskapital mit interessanten Details unterfüttern. Zugegeben, am Alexanderplatz atmet man erst einmal durch. „Im Sommer ist es hier schön grün“ hatten viele Kiezbewohner in den Beiträgen gesagt. Vielleicht lohnt es ja, an wärmen Tagen noch einmal ins Reich der Plattenbauten zurückzukehren und die eigene Meinung zu überarbeiten. Denn mal ehrlich: Welcher Berliner Bezirk sieht im Winter schon einladend aus?

Alina Impe

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