„Attenberg“ von Athina Rachel Tsangari


"Attenberg": Absurditäten des gegenseitigen Begehrens, Foto: Despina Spyrou / HAOS Film

"Attenberg": Absurditäten des gegenseitigen Begehrens, Foto: Despina Spyrou / HAOS Film

I’m boycotting the 21th century, it’s overrated

„I’m boycotting the 21th century, it’s overrated. And I’m not at all sorry to leave it“, sagt der todkranke Spyros (Vangelis Mourikis) zu seiner 23-jährigen Tochter Marina (Ariane Labed). Seine Krebserkrankung ist weit fortgeschritten. Die Mutter längst verstorben. Spyros hat die gemeinsame Tochter alleine groß gezogen. Diese lebt etwas scheu und zurückgezogen von anderen Menschen und kümmert sich aufopferungsvoll um ihren kranken Vater. Alles, was Marina über menschliches Miteinander und sexuelles Verhalten weiß, kennt sie aus Tierdokumentarfilmen ihres Lieblingsfilmemachers Sir David Attenborough, dessen Name sie nur schwerlich aussprechen kann und ihn deswegen „Attenberg“ nennt. Im Angesicht seines baldigen Ablebens wird Spyros schmerzlich bewusst, dass er seine Tochter doch nicht für alles im Leben vorbereiten konnte, zumindest nicht für das im 21. Jahrhundert.

Regisseurin Athina Rachel Tsangari zählt zu den wichtigsten Protagonisten im jungen griechischen Filmschaffen. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Giorgos Lanthimos, dessen neuer Film „Alpen“ die Reihe Neues griechisches Kino im Kino Arsenal vergangene Woche eröffnete, verleiht sie dem Kino ihrer Heimat Griechenland ein neues Gesicht und setzt zugleich sanfte Impulse im europäischen Arthouse-Kino. In ihrem zweiten Langfilm „Attenberg„, der bereits 2010 fertig gestellt und im gleichen Jahr im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele von Venedig uraufgeführt wurde, gelingt ihr auf beeindruckende Weise eine trockene wie einfühlsame Komödie über den Mensch und seine Eigenarten. Die weltentfremdete Marina, deren einzige Bezugsperson neben dem todkranken Vater die gleichaltrige Bella ist, wandelt etwas verschreckt durch das alltägliche Miteinander in dem kleinen griechischen Küstenstädtchen. Mit der Neugier eines Kindes lässt sich Marina von Bella in körperliche Gelüste einführen und erkundet die Absurditäten des gegenseitigen Begehrens. Bella bemüht sich sichtlich, ihre Freundin aufzuklären und weiht sie mit viel Engagement in ihre eigenen Erfahrungen und Phantasien ein. Das stößt nicht immer auf Wohlgefallen bei der ungeübten Freundin.

Stattdessen stellt sich Marina äußerst ungelenk beim ersten Versuch eines Zungenkusses an. Erst als ein fremder Ingenieur (gespielt von Regiekollege Lanthimos) in dem verschlafenen Städtchen auftaucht, wird Marinas Interesse am Zwischenmenschlichen erweckt. „Attenberg“ ist eine etwas andere Coming-of-Age-Geschichte, die vor allem von kleinen, liebevoll inszenierten und stets äußerst skurrilen Momenten lebt. Etwa, wenn der Vater und die Tochter auf dem Bett herumtollen und Affen imitieren oder sie im Krankenhaus bei der Chemobehandlung darüber reden, ob der Vater überhaupt einen Penis besitze und noch Gefallen am anderen Geschlecht findet. Immer wieder brechen Marina und ihre Freundin aus dem starren Alltag aus und tanzen, ohne dass diese szenischen Einsprengsel sich in den narrativen Strang des Filmes einfügen, Bewegungsabläufe von Tieren nach.

Tsangaris Film ist ein Lichtpunkt im krisengebeutelten Griechenland, dessen Bevölkerung erst am vergangenen Wochenende mit den Wahlen ihrem Unmut freien Lauf ließ. Die Botschaft des Filmes scheint klar. In einem der Gespräche zwischen Vater und Tochter bittet dieser die junge Frau: Lebe und begib dich unter andere Menschen. Das ist gar nicht so einfach in dieser etwas tristen und entvölkerten Welt, die Tsangari in „Attenberg“ zeigt.

Eileen Reukauf

Attenberg, Regie/Drehbuch: Athina Rachel Tsangari, Darsteller:  Ariane Labed, Giorgos Lanthimos, Vangelis Mourikis, Evangelia Randou, Kinostart 10. Mai

INTERVIEW MIT REGISSEURIN ATHINA RACHEL TSANGARI