Fantasy Filmfest-Kritik: „96 Minutes“ von Aimée Lagos


"96 Minutes": Dre möchte seine Haut, Kevin das Auto, Carly und Lena ihr Leben retten. Foto: Tiberius Film

"96 Minutes": Dre möchte seine Haut, Kevin das Auto, Carly und Lena ihr Leben retten. Foto: Tiberius Film

(Un)abhängigkeit und (Selbst)hilfe

Um wirklich echten Altruismus handelt es sich, wenn Menschen dazu motiviert sind, den Zustand einer anderen Person in einer bestimmten Situation zu verbessern. Der Ansatz ist dabei sozialer und persönlicher Natur und berücksichtigt dabei emotionale und kognitive Prozesse. Menschen sind erregt, wenn sich andere in Notsituationen befinden. Deswegen fühlt sich der Einzelne nicht zwangsläufig schlecht, aber er beginnt zu erfahren, was die andere Person fühlt. Vom Fühlen, Helfen und der bitteren Einsicht, dass manche Menschen völlig zu Recht durch die Gesellschaft fallen, erzählt Aimée Lagos´ „96 Minutes„.  Zwei Jungs (Dre und Kevin) und zwei Mädchen (Carly und Lena) geraten aneinander. Zwei werden am Ende des Filmes tot sein. Die Überlebenden gehen entweder ins Gefängnis oder bleiben traumatisiert zurück.

Dre (Evan Ross) ist ein Aufsteiger aus dem afroamerikanischen Prekariat. Nach Ende der Highschool möchte er auf ein Collage gehen und seine Gang-Vergangenheit hinter sich lassen. Er ist intelligent, zurückhaltend und ehrgeizig. Sein bester Freund Kevin ist in vielerlei Hinsicht das absolute Gegenteil. Er kommt aus der Unterschicht, möchte unbedingt Mitglied in Dres ehemaliger (schwarzen) Gang werden, leidet unter den wechselnden Freunden seiner Mutter, ist gewaltbereit und –tätig. Nichts wünscht er sich sehnlicher als ein respektierter Gangster zu sein. Die Aufnahme in Dres Gang wäre ein gelungener Autodiebstahl. Dre erfährt davon und zeigt Kevin eine andere Welt – die der (Mittelschichts)- Highschool.

Parallel dazu werden die beiden weiblichen Darsteller eingeführt. Carly ist eine stereotype Streberin, die unter dem Erfolgsdruck ihres Vaters und seiner Lieblosigkeit leidet, gerade deshalb bemüht sie sich, für ihre Mitschülerinnen immer ein offenes Ohr zu haben. So auch für Lena, deren Freund mit anderen Mädchen herummacht. Hinter einem Schülercafé treffen sich beiden Gruppen unerwartet. Dre möchte den überforderten Kevin noch davon abhalten, ein Auto zu klauen, als Carly und Lena das zufälligerweise beobachten. Kevin rastet sofort aus, zieht eine Pistole und brüllt die Mädchen in das aufgebrochene Auto. Lena ist verängstigt und gestikuliert wild herum. Kevin drückt schließlich ab und verletzt Lena lebensgefährlich am Hals.

Von jetzt an beginnt eine Odyssee. Dre möchte seine Haut, Kevin das Auto, Carly und Lena ihr Leben retten. Dre wäre der Einzige gewesen, der diese Situation hätte beenden können, doch er ist so sehr damit beschäftigt, schuldlos davon zu kommen, dass er beschließt, beide Mädchen unter einer Bahnunterführung zu erschießen. Als er mit Tränen in den Augen und zittrigen Händen in Genickschußentfernung zu den Beiden steht, raunt Kevin nur süffisant: „Kann ich das nicht machen?“. Die Fassungslosigkeit Dres öffnet Carly ein winziges Zeitfenster zur Flucht und sie nutzt es. Es dürfte nicht überraschen, dass Aimée Lagos´ Spielfilmdebut auf Geschehnissen ihrer eigenen Collegezeit basieren. Sie weiß, was sie tut und konnte ihr junges Schauspielerensemble sicher durch den 90-Minüter bringen.

Allerdings wirkt „96 Minutes„von der Art der Inszenierung, der Dialoge, des Settings, der musikalischen Untermalung her wie eine Doppelfolge der Serie „The Wire„.  Als der Sender HBO damit begann, Serien zu konzipieren, die pro Folge nicht in etlichen Werbeunterbrechungen mündeten, war das gleichermaßen für Produzent und Konsument eine Offenbarung. Drehbuchautoren konnten die einzelnen Episoden endlich elegant in den Epilog überführen und als Gesamtkunstwerk kamen und kommen diese Serien guter Literatur sehr nahe. Nur „96 Minutes“ als Film ist nicht nur so lang wie zwei Serienfolgen, sondern es fühlt sich beim Schauen auch genauso an. Ungefähr so, als wenn man in Dostojewskis „Der Idiot“ zur Mitte vorblättert, 50 Seiten exzerpiert und anschließend vergisst, dass das Buch von Dostojewski ist. So wird aus der eigentlich guten Idee etwas Moralinsaures und Halbgares. Schade.

Joris J.

96 Minutes Regie/Drehbuch: Aimée Lagos, Darsteller: Brittany Snow, Christian Serratos, Evan Ross, Adam Trahan, J. Michael Trautmann, Jessie Rusu