„Gnade“ von Matthias Glasner


Jürgen Vogel, Foto: Alamode Film, Jakub Bejnarowicz

Jürgen Vogel im Diskurs um Schuld und Sühne, Foto: Alamode Film, Jakub Bejnarowicz

Vereint im Unglück

Die Ehe von Niels (Jürgen Vogel) und Maria (Birgit Minichmayr) muss in den Jahren nach der Geburt von Sohn Markus unmerklich aber stetig an die Wand gefahren sein. Das Paar lebt nur noch nebeneinander her. Statt der Trennung versuchen die beiden einen Neuanfang am Ende der Welt, im norwegischen Hammerfest, tausend Kilometer nördlich des Polarkreises. Einem Flecken der Erde, an dem die Sonne im Winter nicht den Weg über den Horizont schafft.

Dort verfallen sie wieder rasch in alte Muster. Maria bringt all ihre Leidenschaft und Zuneigung in ihrem Beruf als Schwester in einem Hospiz auf, während Ingenieur Niels sich in Norwegen schnell in eine Affäre mit Kollegin Linda stürzt. Das Projekt Neuanfang ist zum Scheitern verdammt, bis Maria eines Nachts, erschöpft von einer Doppelschicht auf der einsamen Straße, ihren Blick zu lange auf ein Nordlicht richtet und erst aufschreckt, als ein dumpfer Knall ertönt und ihr Auto für einige Meter schlingert.

Erschrocken sieht sich Maria um, erkennt aber nichts in ihrem Rückspiegel und fährt weiter nach Hause. Es muss ein Hund gewesen sein. Aber war es tatsächlich nur ein Hund oder doch ein Mensch? Als sie aufgekratzt und neben sich stehend Niels vom Zwischenfall erzählt, macht der sich auf, um an der Straße nach dem Rechten zu sehen. Erfolglos kehrt er zurück. Schon am nächsten Tag deuten mehr als nur Indizien darauf hin, dass die beiden falsch lagen. Ein junges Mädchen ist verschwunden. Bald wird sie tot in einem Schneeloch am Rand der Straße gefunden. Ein Menschenleben ausgelöscht. Statt sich aber der Polizei zu stellen, beschließt das Paar, still zu halten, womit Glasners Diskurs über Schuld und Sühne beginnt.

Der tragische Unfall und die auf den beiden lastende Wucht des Wissens, einen irreparablen Fehler begangen zu haben, bringt Niels und Maria einander wieder näher. Vereint im Unglück. Da sie mit niemandem über das Geschehene sprechen können, reden sie miteinander. Mit der wiederentdeckten Vertrautheit, entflammt sogar die alte Leidenschaft neu, weshalb der notorische Fremdgeher Niels sich von Linda trennt. Doch kann so dauerhaftes, wahrhaftiges Glück entstehen?

Regisseur Matthias Glasner und Kim Fupz Aakeson, der das Drehbuch schrieb, spielen mit der Erwartungshaltung und den Sehgewohnheiten der Zuschauer, indem sie eine ganze Reihe möglicher Lösungen anbieten und damit aufs Glatteis führen, was durchaus wörtlich zu nehmen ist. Ähnlich wie bei „This Is Love„, den Glasner mit Jürgen Vogel in einer der Hauptrollen 2009 vorlegte, verzettelt sich Glasner ein wenig darin, die Vielzahl der Möglichkeiten darzustellen. Weshalb gerade die Figur des Sohnes Markus ein wenig konstruiert erscheint. Doch diese Schwäche sei verziehen.

Denn „Gnade“ bewegt dank einer unbequemen Story, umgesetzt von starken Schauspielern in differenziert gezeichneten Figuren und einer damit einhergehenden Glaubhaftigkeit des Unfassbaren. Wenn sich Birgit Minichmayrs Maria verzweifelt eingestehen muss, welch irreparablen Fehler sie begangen hat, leidet der Zuschauer ebenso wie mit Jürgen Vogels Niels, der einfach keinen Ausweg aus dem Disaster findet. Sie irrlichtern durch diese unendlich weiße, kalte Landschaft des hohen Nordens, die in grandiosen Helikopter-Kamerafahrten eingefangen wird. Es gibt dort nur diese eine verfluchte, vereiste und schneeverwehte Straße, die die beiden zwingt, sich an jedem verdammten Tag mit der Tat zu konfrontieren. Sie erreichen die Grenze dessen, dass sie zu ertragen im Stande sind. Sie müssen handeln. Welch präziser Blick auf das, was wohl ein Gewissen ausmacht.

Denis Demmerle

GnadeRegie: Matthias Glasner, Darsteller: Jürgen Vogel, Birgit Minichmayr, Bjørn Sundquist, Henry Stange, Ane Dahl Torp, Kinostart: 18. Oktober