Berlinale Filmkritik: „Last Hijack“ von Tommy Pallotta und Femke Wolting


"Last Hijack" erzählt keine Geschichte von Verzweiflung und keine Geschichte von Verbrechen als letztem Ausweg. Foto: Berlinale

„Last Hijack“ erzählt keine Geschichte von Verzweiflung und keine Geschichte von Verbrechen als letztem Ausweg. Foto: Berlinale

Captain Mohamed und der verbotene Apfel

Es ist ein Kreuz mit den Trends. Gerade erobern mit „Captain Phillips“ alias Tom Hanks, dem dänischen  Thriller „A Hijacking“ und dem Sundance-Beitrag „Fishing Without Nets“ somalische Piraten die große Leinwand, da erklärt uns der vierte im Bunde, „Last Hijack„: Piraterie ist im ostafrikanischen Failed State längst wieder out. Zu viele hoffnungsvolle, junge Männer sind gestorben, festgenommen worden oder – im glücklichsten Fall – mit leeren Händen zurückgekehrt. Nur ein paar geächtete Exemplare trotzen dem Niedergang dieses besonderen Geschäftszweigs.

Einer dieser Galgenvögel ist Mohammed, der sich für „Last Hijack“ von Tommy Pallotta und Femke Wolting porträtieren ließ. Er ist schon lange im Business, hat sein Geld jedoch unvorteilhaft in gebratenes Hühnchen, vier Ehefrauen und Kath-Sträucher investiert. In seine fünfte Ehe möchte er nun flüssig starten. Sein Anliegen ist ein Klassiker: Der letzte Coup vor dem Ausstieg. Tatsächlich hätte das Regieduo keinen besseren Protagonisten finden können. Mohammed ist ein notorisch unzuverlässiger Gauner, aber durchaus charmant. Er hat viel Leid gesehen, nutzt seine Vergangenheit aber nicht als Ausrede für seine Taten. Er sucht händeringend nach Anerkennung, verfolgt letztendlich jedoch meist egoistische Ziele.

Last Hijack“ erzählt keine Geschichte von Verzweiflung, keine Geschichte von Verbrechen als letztem Ausweg, keine Geschichte von der Ausbeutung Afrikas. Dies wäre nicht unberechtigt. Die Piraterie begann, nachdem ausländische Schiffe illegal die somalische Gewässer leergefischt hatten. Die Armut im vom Bürgerkrieg gezeichneten Somalia nimmt ein unfassbares Ausmaß an. Doch ein anklagender Film würde stolze Menschen in eine ungewünschte Opferrolle drängen. Zudem beweist die zusätzliche Perspektive eines gegen die Piraterie ankämpfenden somalischen Radiojournalisten, dass die kluge Stimme der Vernunft aus Afrika selbst sprechen kann. Der Respekt der Regisseure gegenüber ihren Protagonisten ist ebenso so groß wie wahrhaftig.

Wie wichtig den beiden Filmemachern das Filmprojekt war, beweist im Übrigen die kuriose Entstehungsgeschichte von „Last Hijack“ . Da die körperliche Sicherheit des US-Amerikaners und der Niederländerin in Somalia unmöglich zu gewährleisten war, setzten sie auf die Hilfe eines britisch-somalischen Journalisten. Dieser reist regelmäßig im ostafrikanischen Krisengebiet, hatte allerdings – ebenso wie sein Kameramann – absolut keine Erfahrung mit dem Dokumentarfilm. So drehten die zwei Somalis streng den telefonischen Anweisungen der Regisseure folgend. Diese werteten über Nacht die online verschickten Bilder aus und meldeten sich am Morgen mit neuen Ideen. Direkten Einfluss hatten Pallotta und Wolting hingegen auf die animierten Teile des Films. In feinen Wasserfarben wagt der Film fiktive Rückblicke, überschreitet so die narrativen Grenzen des Dokumentarfilms.

Natürlich bietet „Last Hijack“ lehrreiche Einsichten in die komplizierten gesellschaftspolitischen Verhältnisse Somalias, natürlich wagen die Regisseure einen spannenden Blick in eine fremde Kultur, natürlich klären sie über globale Missstände auf, deren Ursache und Konsequenzen weit über Ostafrika hinaus reichen. Doch letztendlich erzählt „Last Hijack“ die universelle Geschichte der menschlichen Schwäche. Denn Mohamed kann einfach nicht anders: Er muss nach dem verbotenen Apfel greifen – auch wenn dieser ihm stets in Form tonnenschwerer Frachtschiffe erscheint.

Peter Correll