EDDINGTON von Ari Aster


EDDINGTON © LEONINE Studios
EDDINGTON © LEONINE Studios

Joe Is Afraid

Das Jahr 2020 begann für Liebhaber des internationalen Kinos mit einem echten Highlight, als Bong Joon-hos PARASITE als erster nichtenglischsprachiger Film den Oscar für den Besten Film des Jahres gewann. Für einen kurzen Moment schienen sich alle Filmfans weltweit einig zu sein und das Kino einer glorreichen Zukunft entgegenzusteuern. Vier Wochen später waren alle Lichtspielhäuser geschlossen.

Die Welt hat seither zahlreiche Katastrophen erlebt: Kriege, Völkermorde, Terrorakte, Hungersnöte, Jahrhundertstürme und -überschwemmungen, Erdbeben und Waldbrände. Doch das vielleicht nachhaltigste Ereignis des noch jungen 21. Jahrhunderts scheint – zumindest aus der Perspektive der westlichen Zivilisation – die Corona-Pandemie zu sein, die in jenen Tagen ihren Anfang nahm und die Welt mehr als drei Jahre im Griff hatte.

Shutdowns, Lockdowns, Maskenpflicht, Impfkampagnen und weitere Eingriffe in die von vielen als gottgegeben empfundenen Individualrechte, brachten die Gesellschaften des Westens an den Rande des Nervenzusammenbruchs. Widerstände zeigten sich allerorten. Impfgegner, Coronaleugner, Querdenker und Andere, die sich lieber „selbst informierten“, rüttelten mit ihren lautstarken Protesten an den Grundfesten der Demokratie.

Doch auch die Reaktionen der breiten Öffentlichkeit wie der verschiedenen Regierungen schienen wenig koordiniert, bisweilen widersprüchlich und manchmal übertrieben. Der Schaden, den das Gemeinwesen und die westliche Demokratie in dieser angespannten Situation langfristig nahmen, wird wohl erst in einigen Jahrzehnten rückblickend in seinem ganzen Ausmaß zu erfassen sein. Er lässt sich schon heute in der Natur des politischen Diskurses und zum Teil hochproblematischen Wahlergebnissen ablesen.

Ari Asters neuer Film EDDINGTON bringt uns nun noch einmal zurück zu den Anfangstagen der Pandemie in jenes verrückte Jahr 2020, das neben dem Kampf um die Einhaltung von Maskenpflicht und Abstandsregeln Amerika auch als ein politisch tief gespaltenes Land im aufziehenden Präsidentschaftswahlkampf zeigt, das darüber hinaus von den Black Lives Matter-Protesten herausgefordert wird. Aster spricht in seinem Zweieinhalbstundenfilm viele Themen an, vielleicht zu viele. Er wird damit dem politischen, gesellschaftlichen und emotionalen Chaos dieser viele Menschen völlig überfordernden Zeit aber absolut gerecht. EDDINGTON ist kein einfacher Film. Aber der erste Hollywood-Film über die Pandemie (und vieles mehr) ist, wenn man sich auf seinen Vibe einlässt, auch ein verdammt komischer Film.

In der fiktiven Kleinstadt Eddington in New Mexico sieht der allseits respektierte und beliebte Sheriff Joe Cross (Joaquin Phoenix) das harmonische Zusammenleben seiner Gemeinde durch die regierungsbedingten Corona-Maßnahmen bedroht. Er weigert sich, eine Maske zu tragen und setzt sich für jene ein, die den neuen Regeln ebenfalls nichts abgewinnen können. Ganz anders Bürgermeister Ted Garcia (Pedro Pascal), der auf die Einhaltung der Regeln pocht und sich um seine Wiederwahl bemüht. Ted sieht die Zukunft Eddingtons in einem Rechenzentrum für KI-Technologie, für dessen Errichtung er sich stark macht, dessen Bau aber womöglich der Umwelt schaden dürfte. Auch die strengen Corona-Regeln scheint er nur so auszulegen, wie es ihm gerade passt.

Diese klassische Westernkonstellation – zwei Männer, die sich gegenüberstehen und um das Herz und die Seele ihrer Stadt streiten – wird noch verstärkt durch den Umstand, dass Joes Gattin Louise (Emma Stone) früher eine kurze Affäre mit Ted hatte und von diesem angeblich zu einer Abtreibung gezwungen wurde. Joes Wunsch, selbst Vater zu werden, kann die mit mentalen Problemen kämpfende Louise dagegen nicht nachkommen. In seiner Verzweiflung beschließt Joe, sich ebenfalls um das Amt des Bürgermeisters zu bewerben und verstrickt sich immer tiefer in einen nicht zu gewinnenden Konflikt mit dem populären Ted, während Louise und ihre zu Verschwörungsmythen neigende Mutter (Deirdre O’Connell) sich einem zwielichtigen Guru (Austin Butler) anschließen, der seine ganz eigene Erzählung über einen Pädophilenring verbreitet.

Und das sind nur die ersten Linien eines Plots, der vor allem in der zweiten Hälfte des Films immer absurdere Züge trägt, bevor er in ein grandioses Finale mündet, das jedem Westernklassiker zu Ehre gereichen würde. Zum erweiterten Personal gehören unter anderem ein permanent hustend durch die Gegend schlurfender Obdachloser und Black Lives Matter-Proteste organisierende lokale Jugendliche, die den einzigen Afroamerikaner weit und breit, den Deputy Sheriff Michael (Michael Ward), auffordern, sich ihnen anzuschließen, während der die verängstigten Bewohner Eddingtons vor den Protesten schützen soll.

Als ein Mord an der Grenze zum nächsten Distrikt, einem von amerikanischen Ureinwohnern kontrollierten Reservat, geschieht, muss der immer diffuser auftretende Joe mit den ihm äußerst misstrauisch gegenüberstehenden Behörden zusammenarbeiten. Schließlich tauchen auch noch als Antifa verkleidete Agents Provokateurs auf (mit einem Privatjet, wohlgemerkt), die die Situation in ihrem Sinne völlig aus dem Ruder laufen lassen.

Handwerklich gehört Ari Aster zu den aufregendsten Filmschaffenden seiner Generation. Auf den Doppelschlag HEREDITARY (2018) und MIDSOMMAR (2019), der ihn auf Anhieb an die Spitze einer neuen Generation von Horrorregisseuren katapultierte, folgte mit BEAU IS AFRAID (2023) eine furiose Dekonstruktion des weißen amerikanischen Mannes, die wohl vor allem deshalb auf wenig Gegenliebe stieß, da sie konsequent aus der Perspektive seines larmoyanten Protagonisten erzählt wurde und somit seine ganze Lächerlichkeit offenbarte. Alle drei Filme zeichnen sich durch exzellente Kameraarbeit, Perspektivwechsel, Ausstattung, Kostüme und Sound aus, folgen in ihren Erzählungen aber immer wieder auch surrealen Pfaden.

EDDINGTON scheint, zumindest an der Oberfläche, Asters realistischster Film zu sein (Kamera: Darius Khondji). Nichtsdestotrotz offenbaren Plot, Dialoge und Figurenkonstellationen seine Natur als eine von pechschwarzem Humor durchtränkte Satire, in der alle Seiten, rechts wie links, ihr Fett abbekommen. Das mag nicht jedem gefallen. Als der Film entstand, konnte man noch hoffen, der Welt könnte eine zweite Präsidentschaft Donald Trumps erspart bleiben. Nun scheint ein Film, der in alle Richtungen gleichermaßen austeilt, relativistisch. EDDINGTON mag überfrachtet, ja überambitioniert sein, doch der Komik im Detail tut das keinen Abbruch. Es gibt in diesem Film kaum eine Figur, die sich in ihrer Selbstgerechtigkeit nicht der Lächerlichkeit preisgibt, am wenigsten vielleicht noch der von einem kaum wiederzuerkennenden Clifton Collins, Jr. gespielte vor sich hin brabbelnde Obdachlose. Und weil Komik und Tragik oft nah beieinander liegen, ist das Schicksal, dass EDDINGTON seinem unmöglichen Helden am Ende angedeihen lässt, von ganz ausgesuchter Bitterkeit.

Beim gewohnt strengen Publikum des Filmfestivals in Cannes wurde EDDINGTON eher verhalten aufgenommen und an der Kinokasse war der Film ähnlich erfolglos wie BEAU IS AFRAID. Doch wie jener wird auch EDDINGTON seine Fans finden und mit etwas Abstand dürfte er rückblickend als eines der besten Werke des Kinojahrgangs 2025 betrachtet werden. Dafür ist er bei allem Chaos im Detail einfach zu gut. Als Kontrastprogramm oder noch besser als Double Feature mit Paul Thomas Andersons ONE BATTLE AFTER ANOTHER (immer noch der beste Film des Jahres), wäre EDDINGTON sowieso erste Wahl.

EDDINGTON läuft ab 20. November im Kino.

Mögliche Oscarnominierungen: Hauptdarsteller, Kamera, Schnitt, Ton.

EDDINGTON , Regie: Ari Aster, Darsteller_innen: Joaquin Phoenix, Pedro Pascal, Deirdre O’Connell, Emma Stone, Austin Butler, Michael Ward, Luke Grimes, William Belleau, Clifton Collins, Jr., Cameron Mann, Matt Gomez Hidaka u.v.a.