„Qissa“ von Anup Singh



In dem Umfeld, in dem Kanwar aufwächst, sind Frauen nichts wert. „Nutzlose, dumme Dinger“, die höchstens für ihre Schönheit Anerkennung erhalten und ansonsten nur als Gebärmaschinen oder Haushaltskräfte taugen. Heranwachsende Jungen werden stets bevorzugt behandelt, gelten als etwas Besonderes und sind der Stolz der ganzen Familie. Kanwar bedeutet übersetzt „kleiner Prinz“. Privilegien, wie Selbstverteidigung erlernen, Auto fahren oder einem Beruf nachgehen, bleiben ihr vorbehalten, während ihre drei Schwestern nur darauf warten können, eines Tages zu heiraten, um noch mehr männliche Nachkommen in die Welt zu setzen.

Doch aus den Privilegien folgen Pflichten, die Kanwar nicht erfüllen kann. Mangelnde Aufklärung, weitgeschnittene Kleidung und das bewusste Wegsehen der Mutter führen dazu, dass ihr unbewusstes Geheimnis für lange Zeit sicher ist. Erst in ihrer Hochzeitsnacht erfährt Kanwar, dass ihr männlich erzogener Geist in einem weiblichen Körper wohnt. Kanwar stürzt in eine irreparable Identitätskrise, die der Gender-Theorie Recht gibt: Ihr Leben lang folgte sie maskulinen Rollen- und Verhaltensmustern, die sich nicht wieder ablegen lassen. Das Mädchen, das sie jetzt im Spiegel anschaut, findet sie hässlich und abstoßend. Das neue Leben, das damit verbunden ist, kann sie nicht annehmen.

Irrfan Khan und Tillotama Shome in "Quissa". © Camino Filmverleih

Irrfan Khan und Tillotama Shome in „Quissa“. © Camino Filmverleih

Qissa“ erzählt abseits gängiger Bollywood-Märchen eine moderne Geschichte über ein veraltetes Traditions-Korsett, dessen rückständiger Geschlechterdualismus sich ausschließlich über entweder-oder definiert. Heute, gut 65 Jahre später, verschafft sich das Dazwischen durch queere oder transsexuelle Strömungen zwar immer mehr Gehör, jedoch ist der weltweite Kampf um das Recht zur sexuellen Selbstbestimmung und gegen diskriminierende Heteronormativität noch längst nicht ausgefochten. Anup Singhs historisches Genderdrama spannt somit den Bogen zu einer nach wie vor aktuellen politischen Schieflage, in der der Zwang zur Norm als Konsequenz von gesellschaftlicher Rückständigkeit und Ignoranz lesbar wird.

Alina Impe

Qissa„, Regie: Anup Singh, Darsteller: Irrfan Khan, Tisca Chopra, Tillotama Shome, Kinostart: 10. Juli 2014, auf DVD ab 19. Juni 2015

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