SIRÂT von Oliver Laxe


SIRÅT © Pandora Film / QuimVives
SIRÂT © Pandora Film / QuimVives

Road To Nowhere

Kräftige Hände türmen schwere Kisten aufeinander, errichten eine Wand aus altem, abgenutztem Holz und aufgespannten Membranen. Kabel werden fachkundig angebracht und mit einem sanften Brummen erscheint vor uns eine gewaltige Soundanlage, die schon nach dem nächsten Schnitt den Kinosaal in einen Rave zu verwandeln und das Publikum mit wummernden Beats und sich überlagernden Bassfrequenzen zu beschallen scheint. Man sollte diesen Film auf der größtmöglichen Leinwand und mit dem bestmöglichen Sound sehen … nein nicht nur sehen, ihn hören, ihn erleben. Oliver Laxes betörendes Kinoereignis SIRÂT ist eine Erfahrung und sie ist, egal was man am Ende von dem Film halten mag, einen Besuch im Kino unbedingt wert.

Der Film wirft uns direkt hinein in seine Welt aus randständigen Existenzen. Er beginnt mit einem illegalen Rave im marokkanischen Hinterland. Die Feiernden sind keine Großstadthipster, erinnern eher an Hippies und Aussteiger. Zwei Gestalten heben sich aber doch ab. Ein schwitzender, untersetzter Mann, Luis (Sergi López), und sein Sohn Esteban (Bruno Núñez Arjona) verteilen Flyer. Sie sind nicht hier, um sich dem allgegenwärtigen Rhythmus zu ergeben. Sie suchen Luis’ Tochter, Estebans Schwester, zu der sie seit Monaten keinen Kontakt mehr haben, von der sie aber hörten, sie könnte bei diesem Rave anzutreffen sein. Niemand kennt sie oder hat sie gesehen, doch erfahren sie, dass später ein weiterer Rave in der Wüste an der Grenze zu Mauretanien stattfinden soll. Vielleicht habe es die Tochter dorthin verschlagen.

Kurz darauf wird die Party von Uniformierten beendet. Ein militärischer Konflikt droht, weshalb alle Europäer das Land schnellstens verlassen sollten. Während die meisten murrend der Aufforderung nachkommen, büchst eine kleine Gruppe von Underdogs aus, um sich zum Wüstenrave durchzuschlagen. Luis und Esteban schließen sich ihnen nach kurzem Zögern an. Nach anfänglicher Reserviertheit werden die beiden schließlich Teil einer kleinen eingeschworenen Gemeinschaft, bevor dieses beatgeschwängerte Roadmovie plötzlich eine ganz andere Richtung einschlägt.

Man könnte Laxe vorwerfen, dass er seine Geschichte auf halber Strecke aus den Augen verliert. Doch wer eine traditionell erzählte Story und komplex ausgearbeitete Charaktere erwartet, ist in SIRÂT schlicht im falschen Film. Warum sich Luis’ Tochter ihrer Familie entfremdet hat, was die anderen Weggefährten an diesen Ort verschlagen hat und was es mit den politischen Turbulenzen auf sich hat, die zum Abbruch des ersten Raves geführt haben – wir werden es nicht erfahren. Alles bleibt im Ungefähren. Wann immer im Autoradio die Nachrichten verlesen werden („es droht ein dritter Weltkrieg“), schalten die Raver, die mit dem Rest der Welt abgeschlossen zu haben scheinen und jede_r für sich eigene Narben tragen, ab.

Ihre Reise ins Ungewisse (wo soll der Rave überhaupt stattfinden?) führt sie in immer trostlosere, kargere Gegenden und der erste abrupte Wechsel, der dem Film eine neue Richtung vorgibt, wird nicht der Letzte sein, bis sich die kleine Gemeinschaft puren existenzialistischen Fragen stellen muss und Regisseur Laxe es sprichwörtlich krachen lässt.

SIRÂT besticht weniger durch narrative Finesse, auch wenn Laxe seinem Publikum einiges zumutet. Vielmehr haben wir es hier mit einer experience zu tun, einem audiovisuellen Ereignis, das niemanden kalt lassen dürfte. Wie bei einem echten Rave ergibt man sich dem Rhythmus, wird Teil einer Community. Das arabische Wort „sirât“ bezeichnet eine Brücke, schmal und tückisch, die zwischen Himmel und Hölle zu passieren ist. Und so lauern hinter dem ekstatischen Freiheitsversprechen des Raves auch Gewalt und Tragik.

Wie in seinen früheren Filmen baut Laxe seine Geschichte um eine Gruppe von ungewöhnlichen Laiendarstellern, allesamt Veteranen der Partyszene, die mit wettergegerbten Gesichtern und sehnigen, zum Teil verstümmelten Körpern, glaubhaft einen alternativen Lebensstil verkörpern, während Sergi López als einziger professioneller Schauspieler im Ensemble der Story die nötige dramatische Tiefe verleiht. Neben den erhabenen, immer lebensfeindlicheren Landschaften beeindruckt an SIRÂT aber vor allem das Sound Design. Der harte Technoscore von Kanding Ray wird dabei immer wieder von Momenten der Stille und gelegentlichen Explosionen unterbrochen.

Erinnerungen an Henri-Georges Clouzots Klassiker LOHN DER ANGST (1953) werden ebenso aufgerufen, wie an den ultimativen Film über zu hämmernden Beats durch die Wüste rasenden Fahrgefährten, MAD MAX: FURY ROAD (2015). Und wer weiß, vielleicht bildet Oliver Laxes Film ja so etwas, wie ein inoffizielles Prequel zu George Millers furiosem Action-Meisterwerk.

SIRÂT läuft ab 14. August im Kino.

Mögliche Oscarnominierungen: International Picture, Sound

Thomas Heil

SIRÂT, Regie: Oliver Laxe, Darsteller_innen: Sergi López, Bruno Núñez Arjona, Jade Oukid, Joshua Liam Henderson, Stefania Gadda, Tonin Javier, Richard „Bigui“ Bellamy u.v.a.